Die Braut im Schnee
wuchs.
«Sie ist noch immer nicht zu Hause, aber sie hat sich gemeldet», sagte der Mann.
«Wo ist sie? Kann ich sie sprechen?»
«Sie hat aus Paris angerufen, vom Bahnhof. Die Verbindung war schlecht. Ich habe nicht alles verstanden, was sie gesagt hat. Sie hat noch eine Freundin dort besucht. Ich glaube, dass sie kein Geld mehr hat. Sie wollte den ersten Zug nehmen, der nach Frankfurt geht. Wann sie ankommt, weiß ich nicht.»
«Hat sie gesagt, von welchem der Pariser Bahnhöfe sie abfährt?»
«Ja, vom Ostbahnhof.»
«Haben Sie ihr gesagt, was passiert ist, dass man ihre Freundin ermordet hat?»
«Nein, Sie wollten doch nicht …»
«Gut», unterbrach ihn Marthaler. «Und niemand darf erfahren, dass sie nach Frankfurt kommt. Haben Sie gehört?! Ich werde mich erkundigen, wann die ersten Züge aus Paris auf dem Hauptbahnhof eintreffen. Und ich werde Ihre Tochter dort abholen.»
«Wir werden ebenfalls dort sein», sagte Heinrich Wolfram. «Wir wollen Steffi so schnell wie möglich sehen.»
«Nein, das werden Sie nicht», sagte Marthaler. «Sie bleiben, wo Sie sind. Ich werde mit Ihrer Tochter sprechen, dann melde ich mich wieder bei Ihnen. Sie werden Sie bald sehen. Ich werde ein Treffen organisieren. Aber Sie müssen noch etwas Geduld haben. Erst muss sie in Sicherheit sein.»
Aber Heinrich Wolfram gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. «Und was wollen Sie tun, um meine Tochter zu erkennen? Wollen Sie sie ausrufen lassen? Das halte ich für keine so gute Idee.»
Marthaler überlegte. Er sah ein, dass der Mann Recht hatte. Wahrscheinlich wäre es ungefährlicher, wenn ihre Eltern Stefanie kurz begrüßen würden.
«Also gut», stimmte er zu. «Machen wir es, wie Sie vorschlagen. Sie hören von mir, sobald ich im Büro bin.»
Marthaler rechnete nach. Selbst wenn Stefanie Wolfram die schnellste und teuerste Zugverbindung von Paris nach Frankfurt wählte, würde sie frühestens am späten Vormittag ankommen. Er hatte also noch ausreichend Zeit, seinen Lauf durch den Stadtwald zu machen und anschließend alle Vorbereitungen zu treffen.
Langsam lief er los. Er wollte erst warm werden, bevor er das Tempo erhöhte. Er hatte inzwischen gelernt, seine Kraft einzuteilen. Es war noch fast dunkel, und so wählte er den Weg, den er kannte: Er lief an den Grillplätzen am Scheerwald vorbei, dann folgte ein kleiner Schlenker nach rechts, bevor er links abbog und dem Zaun des Waldfriedhofs folgte. An der Tellersiedlung verließ er den Wald, in den er aber kurz vor der Autobahnbrücke wieder einbog. Er passierte den Maunzenweiher und hatte knapp zehn Minuten später jene Stelle erreicht, wo sie vor ein paar Jahren die Leiche eines jungen Mannes gefunden hatten, der auf äußerst brutale Weise erstochen worden war.
Als Marthaler am Goetheturm ankam, war er knapp eine Stunde gelaufen. Und auch hier holte ihn die Erinnerung an den alten Fall wieder ein. Ein Freund des Getöteten war damals vor laufenden Fernsehkameras von der hohen Aussichtsplattform gesprungen, während die Polizei den Turm belagert hatte.
Danach hatte es Marthaler lange Zeit vermieden, in den Stadtwald zu gehen. Schließlich hatte er sich dazu gezwungen. Er wollte nicht, dass ihm seine Arbeit einen Ort nach dem anderen verleidete. Es war die Stadt, in der er wohnte. Es war die Stadt, in der es so viele Verbrechen gab wie in kaum einer anderen, trotzdem war es auch seine Stadt, und er wollte sie sich nicht nehmen lassen.
Nach seinem Lauf fühlte er sich gut. Ein wenig erschöpft, aber gut. Er war durchgeschwitzt und beeilte sich, nach Hause zu kommen. Er musste noch duschen und frühstücken. Trotzdem würde er seinen Arbeitstag früh beginnen können.
Als er sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, fand Marthaler die Nachricht, dass man den Fotografen Helmut Drewitz am Vortag in Namibia verhaftet habe. Er hatte die Monate seit seiner Flucht in einem Hotel in Windhuk unter falschem Namen verbracht. Ein deutscher Urlauber hatte ihn dort erkannt. Bei einer ersten Vernehmung durch die namibische Polizei hatte Drewitz beteuert, nichts mit dem Mord an Gabriele Hasler zu tun zu haben. Ja, dachte Marthaler, jetzt wissen wir es auch, aber jetzt ist es zu spät.
Er schaltete seinen Computer ein und rief die Seite mit den Reiseauskünften der Deutschen Bahn auf. Der erste Zug vom Pariser Ostbahnhof würde um 13.08 Uhr in Frankfurt eintreffen. Er rief im Präsidium an und bestellte für den Mittag zwei Streifenwagen. Spätestens um kurz
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