Die Braut im Schnee
es war so.»
Marthaler hatte Mühe, sich von seiner Überraschung zu erholen. Als er jetzt darüber nachdachte, merkte er, dass es Hinweise darauf gegeben hatte, was Stefanie Wolfram ihnen gerade berichtet hatte. Die Wäsche, die er in dem Schlafzimmerschrank von Gabriele Hasler gefunden hatte. Die Kondome im Nachttisch. Die Aussage ihres Verlobten, dass die Eltern den Kontakt zu ihrer Tochter wegen ihres Lebenswandels abgebrochen hatten. Das Gerede der Nachbarn. Hinweise, die er ignoriert hatte, weil sie nicht in das Bild passten, das er sich von einer Zahnärztin machte.
Jetzt wirbelten die Informationen in seinem Kopf durcheinander. Monatelang hatten sie ins Leere ermittelt, hatten sich immer wieder im Kreis bewegt, und nun kam im Laufe von vierundzwanzig Stunden alles in Bewegung. Er ließ sich vonStefanie Wolfram die Adresse der Wohnung geben, in der Gabriele Hasler ihrer Nebentätigkeit nachgegangen war. Sie befand sich in einem Apartmenthaus in Bockenheim.
Marthaler entschuldigte sich und verließ den Konferenzraum. Auf dem dunklen Hotelflur tippte er die Nummer von Walter Schilling in sein Telefon. Er bat den Chef der Spurensicherung, sich umgehend einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung zu besorgen und sofort ein Team dorthin zu schicken. Dann kehrte er zu den anderen zurück.
«Erinnern Sie sich an die Männer, die Gabriele Hasler empfangen hat. Oder wenigstens an einige von ihnen. Gab es darunter einen, dem Sie zutrauen würden, dass er so etwas tut? Hat sie Ihnen von einem brutalen Freier erzählt? Von einem, mit dem sie Streit hatte? Gibt es einen Namen, den sie erwähnt hat?»
Endlich setzte Stefanie Wolfram ihre Sonnenbrille ab. Ihre Augen sahen müde aus, und ihre gebräunte Haut wirkte nun fahl. Sie überlegte lange, dann strich sie sich eine Strähne aus der Stirn und schüttelte den Kopf.
«Ich habe immer mal wieder einen der Typen aus Gabis Zimmer kommen sehen. Aber meist hat sie versucht, diese Termine so zu legen, dass ich nicht zu Hause war. Ich habe ihr ins Gewissen geredet. Ich habe versucht, ihr klar zu machen, wie gefährlich es ist, was sie da treibt. Wir hatten dauernd Krach. Schließlich habe ich ihr gedroht, sie rauszuschmeißen, wenn sie weiter Freier in unserer Wohnung empfängt.»
«Und?», fragte Kerstin Henschel, «hat das etwas genützt?»
«Nein. Ich weiß nicht, ob sie sich daran gehalten hat. Manchmal ist sie angerufen worden und ist dann weggegangen. Keine Ahnung, wohin. Vielleicht zu den Männern nach Hause, vielleicht in irgendwelche Hotels. Aber nein, ich erinnere mich an niemanden.»
«Trotzdem», sagte Marthaler. «Sie müssen es versuchen. Jemand ist in Ihr Haus eingedrungen, um Sie zu töten. Jemand, der nicht wollte, dass Sie mit uns sprechen. Dafür muss es einen Grund geben. Der einzige Schluss, den wir daraus ziehen können, ist der, dass Sie den Mörder Ihrer Freundin kennen. Oder dass er das jedenfalls befürchtet.»
Für einen winzigen Moment kräuselte sich Stefanie Wolframs Stirn, so, als sei ihr ein Gedanke durch den Kopf gegangen, den sie gleich darauf wieder verworfen hatte. Marthaler war es nicht entgangen. Er sah die junge Frau aufmerksam an und wartete, dass sie etwas sagte.
Aber sie schüttelte erneut den Kopf. «Nein, tut mir Leid. Mir fällt weder ein Name noch ein Gesicht ein. Es ist auch zu lange her, dass ich von diesen Dingen etwas mitbekommen habe. Ich hatte immer wieder Auseinandersetzungen mit Gabi deswegen. Irgendwann habe ich das Thema nicht mehr angesprochen.»
«Aber Ihre Eltern haben von einem Streit berichtet, den sie unfreiwillig mitbekommen haben. Einen Streit, den Gabi mit einem Mann hatte.»
Stefanie Wolfram lachte. «Ja», sagte sie, «meine Eltern haben damals natürlich sofort die richtigen Vermutungen angestellt. Und sie waren schockiert. Am liebsten hätten sie mir den Umgang mit Gabi verboten. Aber solche Vorfälle gab es anfangs häufiger. Sie hat sich mit den Freiern um Geld gestritten oder um die vereinbarten Leistungen. Wenn ich sie dann hinterher fragte, was los gewesen sei, wiegelte sie ab. ‹Nichts›, sagte sie. ‹Kümmer dich einfach nicht drum.› Sie wollte nicht darüber reden. Wie sie überhaupt immer weniger redete. Sie wurde immer einsamer und immer unglücklicher. Und zugleich immer schweigsamer.»
Jetzt schaltete sich Kai Döring ein. «Können Sie uns etwas darüber sagen, wie oft sie Freier empfangen hat? Einmal amTag? Seltener, öfter? Ich hätte gerne eine Vorstellung davon, welches Ausmaß
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