Die Braut im Schnee
Zeit lang bellen. Und man hört in der Ferne einen Mann, der ihn Flocky nennt.»
«Nicht nur der Mann nennt ihn so», sagte Marthaler. «Auch das Mädchen. Es gibt eine Stelle in dem Gespräch, wo sie anscheinend den Telefonhörer abdeckt. In dieser Zeit sagt sie etwas. Man hört es nur undeutlich, gedämpft. Aber sie sagt: ‹Flocky, aus!› Das klingt für mich, als würde der Hund ihr gehören. Als habe sie ihn dem Mann zur Aufbewahrung gegeben, solange sie telefoniert.»
«Also», sagte Sven Liebmann, «suchen wir nach jemandem, der Getränkekästen transportiert. Und nach einem Mann, der auf einen Hund aufgepasst hat. Vor allem aber suchen wir nach einem Mädchen, das eine Zahnspange und einen Hund namens Flocky hat.»
«Genau», sagte Marthaler. «Und dieses Mädchen werden wir finden.»
FÜNF
Geweckt wurde er vom Klingeln seines Mobiltelefons. Marthaler wusste nicht, wo er war. Es war noch dunkel. Mühsam versuchte er, aus seinem Traum aufzutauchen und sich zu orientieren. Er streckte den Arm aus, um seine Nachttischlampe anzuschalten. Stattdessen fühlte er die Wärme eines Körpers. Es war Tereza, die neben ihm lag und schlief. Jetzt erinnerte er sich. Er war noch lange im Büro gewesen am gestrigen Abend. Dann hatte Tereza angerufen und ihn gefragt, ob er nicht bald Feierabend machen und sich mit ihr treffen wolle. Obwohl er müde gewesen war, hatte er zugestimmt. Mit dem Fahrrad war er nach Bockenheim gefahren und hatte sie in der Pension Uhland abgeholt. Dann waren sie in ein kleines Kellerlokal in der Schlossstraße gegangen, hatten zwei Gläser Wein getrunken und jeder eine große Scheibe Bauernbrot mit Schinken und Käse gegessen. Noch am Tisch wäre er fast eingeschlafen. Tereza hatte ihn überredet, mit zu ihr in die Pension zu kommen.
In den letzten Wochen hatten sie sich getroffen, sooft sie nur konnten. Marthaler hatte den Eindruck, dass sie gerade erst anfingen, einander kennen zu lernen. Sie redeten viel. Es kam vor, dass sie die halbe Nacht nebeneinander lagen und sich Geschichten aus ihrer Kindheit erzählten. Manchmal, wenn er gerade eingeschlafen war, weckte ihn Tereza wieder, weil ihr noch etwas eingefallen war, das er unbedingt sofort erfahren musste. Sie gingen zusammen ins Kino und ins Konzert, und gelegentlich saßen sie auch einfach nur nebeneinander auf Marthalers Couch, hörten Musik und lasen sich aus ihren Lieblingsbüchern vor. Einmal hatte Tereza gesagt, dasssie das Gefühl habe, ihn schon sehr lange zu kennen und dass er ihr trotzdem manchmal noch ganz fremd sei. Ihm ging es ähnlich mit ihr. Sein Wunsch, dass sie wieder bei ihm einziehen möge, war immer stärker geworden. Aber jedes Mal, wenn er das Thema ansprach, lachte Tereza. Und auch sein Argument, dass der Aufenthalt in der Pension auf Dauer zu teuer sei, beeindruckte sie nicht. Die Wirtin habe ihr einen Sonderpreis gemacht. Sie sei gerne bei ihm, aber sie sei auch gerne alleine, sagte Tereza.
In der Dunkelheit stand Marthaler auf und tastete nach seiner Jacke. Als er das Handy gefunden hatte, hörte es auf zu läuten. Er ging in das kleine Badezimmer und schaltete das Licht ein. Er nahm seine Armbanduhr von der Ablage über dem Waschbecken und streifte sie über sein Handgelenk. Es war erst kurz nach vier, aber jetzt war er wach. Er putzte sich die Zähne, dann zog er sich an. Bevor er das Zimmer verließ, beugte er sich über Tereza und küsste sie auf ihr Haar.
Er radelte durch die dunkle Stadt, die noch fast menschenleer war. Als er im Großen Hasenpfad angekommen war, ging er nur kurz in seine Wohnung, um seine Sportsachen anzuziehen. Dann fuhr er zum Goetheturm.
Seit einiger Zeit ging Marthaler drei-, viermal pro Woche in den Stadtwald zum Laufen – manchmal nach der Arbeit, am liebsten aber frühmorgens, wenn die Luft noch frisch und außer ihm kaum jemand unterwegs war. Er hatte seit Jahresende bereits vier Kilo abgenommen und hatte sich vorgenommen, dass es bis zu seinem Geburtstag im Juli noch einmal fünf werden sollten.
Er hatte sein Rad gerade angeschlossen und wollte loslaufen, als sein Telefon wieder klingelte.
«Ich fürchte, jetzt habe ich Sie geweckt», sagte die Stimme eines Mannes.
«Nein», sagte Marthaler. «Das Telefon hat mich vor einer Stunde geweckt, aber nicht jetzt. Wer spricht da, bitte?»
«Sie haben gesagt, dass ich Sie anrufen soll. Egal, zu welcher Tageszeit …»
Marthaler erkannte, dass es der Vater von Stefanie Wolfram war. Sofort merkte er, wie seine Anspannung
Weitere Kostenlose Bücher