Die Braut im Schnee
zuerst», sagte Marthaler zu Kerstin Henschel. «Ich will sehen, wie du reagierst. Dann bilde ich mir ein Urteil.»
Kerstin Henschels Pupillen verengten sich im weißen Widerschein des Monitors. Ihre Haut wirkte fahl. Und ihre Lippen waren vor Konzentration zusammengepresst. Marthaler sah, wie ihre Augäpfel immer wieder den Zeilen der Nachricht folgten.
Schließlich stand sie auf.
Sie nickte.
«Es besteht kein Zweifel. Das kann niemand anders geschrieben haben.»
Marthaler setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl. Er begann zu lesen.
PN von ARMADILLO 4 : 18 «Hallo, Desposada! Schwester im Geiste, das klingt, als ob es mich interessieren würde. Auch ich habe Bekanntschaft mit Slowhand gemacht: kurz, aber heftig. Und sehr aufregend. Deine Neugier auf Unbekanntes wird gestillt werden. Wir treffen uns an den Eschbacher Klippen. Heute Nachmittag um 15 Uhr. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann bring deinen Brautschleier mit. Manche Angebote gibt es nur einmal. Armadillo.»
Er las den Text wieder und wieder. Nach der fünften Lektüre nickte auch er.
«O Gott, verdammt», sagte Marthaler. «Ihr habt Recht. Das klingt eindeutig nach unserem Mann. Trotzdem wüsste ich gerne, warum wir uns so sicher sind. Was steht eigentlich in dem Text, dass keiner von uns einen Zweifel hat?»
Kai Döring war zur Tür gegangen und hatte die Deckenbeleuchtung eingeschaltet. Jetzt drehte er sich zu den anderen um und sagte aufgeregt: «Er muss es einfach sein. Erstens: Der Typ ist sofort auf unsere Formulierung ‹Schwester im Geiste› angesprungen. Zweitens: Er sagt, er habe Bekanntschaft mit Andrea Lorenz alias Slowhand gemacht. Drittens: Diese Bekanntschaft sei kurz, aber heftig verlaufen. Und viertens: Er will, dass Desposada einen Brautschleier mitbringt. Dieser letzte Punkt scheint mir der wichtigste zu sein. Zwar wussten die Presseleute, dass Gabriele Hasler verlobt war, aber von einem Brautschleier war weder in ihrem Fall noch bei dem Mord an Andrea Lorenz die Rede. Davon kann außer uns nur einer wissen.»
«Es gibt noch einen fünften Punkt, den Kai nicht erwähnt hat», sagte Manfred Petersen. «Ich meine den Ort, den dieser Armadillo als Treffpunkt ausgewählt hat. Die Eschbacher Klippen. Wieder ist es ein Platz, der beides zugleich ist: öffentlich und verborgen. Es ist wieder ein öffentliches Versteck.»
«Kann mir jemand die Klippen beschreiben?», fragte Marthaler. «Ich war noch nie dort.»
«Sie sind im Hochtaunus, ein paar Kilometer nördlich von Usingen. Es ist wunderschön dort. Die Felsen sind zwölf Meter hoch, und bei gutem Wetter sind dort Kletterer unterwegs. Jedenfalls scheint unser Mann eine Vorliebe für ungewöhnliche Umgebungen zu haben.»
«Und jetzt?», sagte Marthaler. «Was sollen wir tun?»
Kai Döring und Manfred Petersen schwiegen.
«Entschuldigt, Männer», sagte Kerstin Henschel. «Aberwas soll diese Frage? Was wir tun werden, ist doch klar. Wir werden ihm antworten. Wir werden dem Treffen zustimmen. Und dann werden wir alles vorbereiten, um ihn heute Nachmittag an den Eschbacher Klippen festzunehmen. Ich verstehe nicht, was es da lange nachzudenken gibt.»
«Langsam, Kerstin», sagte Marthaler, «es gibt eine ganze Menge zu überlegen. Der Ton, den dieser Armadillo in seiner Nachricht anschlägt, macht mir Angst. Er fragt gar nicht, ob Desposada an einem Treffen interessiert ist. Er bestimmt es einfach. Er legt Ort und Zeitpunkt fest. Darauf dürfen wir uns nicht einlassen. Wir sind es, die die Fäden in der Hand halten müssen. Du willst ihm antworten, aber er hat nicht einmal um eine Antwort gebeten. Er hat einen Befehl erteilt, und er lässt keinen Widerspruch zu. Das passt mir ganz und gar nicht.»
«Ob es dir passt oder nicht, wir haben keine Alternative», sagte Kerstin Henschel. «So nah wie jetzt waren wir noch nie an ihm dran. Wenn wir diese Chance verpassen, entwischt er uns womöglich. Und wenn wir das nächste Mal von ihm hören, dann auf eine Art, die uns noch viel weniger gefällt.»
«Und was, wenn wir uns alle täuschen?», fragte Petersen. «Wenn er es doch nicht ist? Wenn es sich nur um irgendeinen harmlosen Spinner handelt?»
«Das werden wir schon merken», erwiderte Kerstin Henschel. «Wir werden ihn an Ort und Stelle festnehmen. Alles Weitere sehen wir dann. Eine unberechtigte Festnahme wäre noch das kleinste Übel.»
Marthaler sah ein, dass Kerstin Henschel wahrscheinlich Recht hatte. Wenn sie diese Möglichkeit ungenutzt ließen, wäre
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