Die Braut im Schnee
waren und noch immer niemand in der Nähe der Klippen aufgetaucht war, verließ Marthaler sein Versteck und stellte sich auf die freie Fläche vor den Felsen. Jetzt war es egal, ob er hier Spuren hinterließ. Er hob beide Arme.
«Die Aktion ist zu Ende», rief er laut. «Es ist schief gegangen. Alle herkommen! Wir müssen das weitere Vorgehen besprechen.»
Nach und nach kamen die Polizisten zwischen den Bäumen und hinter den Hecken hervor.
Allen war ihre Anspannung anzusehen, sie sahen aus, als würden sie zum ersten Mal wieder wagen zu atmen. Zugleich waren sie niedergeschlagen über die misslungene Maßnahme. Dreizehn Beamte standen um Marthaler herum und warteten darauf, dass er etwas sagte, dass er Anweisungen gab, was jetzt geschehen sollte.
«Das Wichtigste: Wir müssen herausfinden, wo sich Kerstin befindet. Sie hat mich vor fast zwei Stunden aus Frankfurt angerufen und mir gesagt, dass sie losfährt. Seitdem haben wir nichts von ihr gehört. Ich habe vor zehn Minuten das ersteMal versucht, sie zu erreichen. Ihr Handy ist eingeschaltet, aber sie geht nicht dran. Das ist auch jetzt noch so. Ich will, dass alle zur Verfügung stehenden Wagen die gesamte Umgebung absuchen. Wir brauchen jede Frau und jeden Mann. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber wir müssen sie finden. Vielleicht hat sie eine Panne gehabt oder einen Unfall. Vielleicht ist etwas Schlimmeres geschehen. Teilt euch auf und sucht alle Strecken ab, die sie genommen haben könnte.»
Marthaler rief Döring, Liebmann und Petersen zu sich. «Wir können hier nichts ausrichten. Wir fahren auf dem schnellsten Weg nach Frankfurt. Ich bin überzeugt, dass sie die Stadt niemals verlassen hat.»
Die Rückfahrt verbrachten die vier Männer damit, darüber nachzudenken, wie es zu einem solchen Fehlschlag hatte kommen können. Sie versuchten ruhig und besonnen zu bleiben, aber von Minute zu Minute gelang ihnen das weniger.
Eine knappe Stunde später kamen sie vor dem Weißen Haus an. Augenblicklich brach die Hölle über sie herein. Die Journalisten hatten bereits Wind von der Sache bekommen. Auf der Straße und im Hof hatten sich Reporter und Kamerateams eingefunden. Alle wollten Aufnahmen machen. Alle wollten eine Erklärung. Ohne einen Kommentar abzugeben, bahnten sich die Beamten einen Weg zum Eingang. Der Polizeipräsident, sein Stellvertreter und der Leiter der Pressestelle warteten bereits auf sie. In Elviras Zimmer läuteten alle Telefone gleichzeitig. Von Kerstin Henschel fehlte noch immer jede Spur. Die Suche nach ihr lief auf Hochtouren. Inzwischen waren mehr als hundert Schutzpolizisten im Einsatz. Ein Streifenwagen stand vor dem Haus, in dem sie wohnte, aber auch dort war sie nicht aufgetaucht.
Als sie sich im Sitzungszimmer versammelt hatten, bekam Marthaler einen seiner Wutanfälle. «Wie kann das sein?»,schrie er. «Wie kann diese verfluchte Pressemeute schon wieder Bescheid wissen. Es gibt eine undichte Stelle. Ich will verdammt nochmal wissen, wer die Reporter benachrichtigt hat! Eine Kollegin ist verschwunden, und wir werden schon wieder von den Journalisten belagert!»
Gabriel Eissler stand am Fenster und schaute hinaus. Einen Moment lang ließ er die Stille nach Marthalers Anfall wirken, dann begann er leise zu sprechen. «Machen Sie halblang, Marthaler. Spielen Sie nicht schon wieder den wilden Mann. Wir können nicht ganze Horden von Streifenpolizisten zum Einsatz bringen, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Und eines ist sicher, wir werden die Presseleute diesmal brauchen. Wahrscheinlich sehr viel früher, als uns lieb ist.»
Eisslers Worte waren von ungewöhnlicher Deutlichkeit, und sie klangen umso schärfer, als er sie in einem betont ruhigen Ton ausgesprochen hatte. Trotzdem schienen sie ihre Wirkung auf Marthaler zu verfehlen. Nichts interessierte den Hauptkommissar im Moment weniger, als was irgendein Vorgesetzter dachte oder sprach. Er war ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
«Er hat sie. Kerstin ist entführt worden», sagte er. «Eine andere Erklärung gibt es nicht. Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte, aber es ist so.»
Obwohl er diese Worte mehr zu sich selbst als zu den anderen gesagt hatte, sprach er damit aus, was alle dachten.
Eissler nickte. «Wir müssen davon ausgehen, dass es so ist. Etwas Schlimmeres hätte kaum passieren können. Es ist klar, was das heißt.»
Niemand sagte etwas.
«Auch wenn ich Sven Liebmann mein Okay zu der Aktion gegeben habe», fuhr Eissler fort,
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