Die Braut im Schnee
«ist sie unter Hauptkommissar Marthalers Verantwortung geschehen. Ich denke, damit istklar, dass die Leitung der Ermittlungen bis auf weiteres von mir übernommen werden muss. Schon, damit wir der Presse nicht wieder unnötigerweise Munition liefern.»
Seine Kollegen schauten Marthaler an, aber der reagierte nicht. Er hatte den Kopf gesenkt und starrte auf den Tisch.
«Haben Sie gehört, was ich gesagt habe, Herr Hauptkommissar?», fragte Eissler.
Marthaler schaute auf. «Nein, Entschuldigung», sagte er. «Ich habe nachgedacht.»
«Ich habe gesagt, dass ich ab sofort die Ermittlungen leiten werde.»
Marthaler sah den Polizeipräsidenten an. «Nein», sagte er, «das werden Sie nicht.»
«Doch, das werde ich. Und das ist mein letztes Wort dazu.»
Marthaler nickte. Dann stand er auf und verließ langsam den Raum. Leise schloss er die Tür hinter sich.
Er ging in sein Büro und holte seine Tasche. «Wenn irgendetwas ist», sagte er zu seiner Sekretärin, «du kannst mich zu Hause erreichen.»
«Du willst jetzt
nach Hause
?», fragte Elvira. «Robert, was ist los? Bist du schon wieder mit ihm aneinander geraten?»
«Ja», sagte er. «Aber das ist kein Problem. Lass ihn nur machen. Es ist mir sogar lieber so. Ich will in Ruhe über alles nachdenken.»
Tobi und sein Großvater saßen zusammen auf dem Sofa und schauten Fernsehen. Als Marthaler den Raum betrat, blickte der Junge kurz auf und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen.
Marthaler legte die Post, die er gerade mit hochgebracht hatte, auf den Stapel mit Briefen und Werbesendungen, der sich in den letzten Tagen auf dem Küchentisch angesammelthatte. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sich darum zu kümmern.
Er zog seinen Mantel aus. Dann ging er zurück in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Er öffnete eine Flasche Rotwein und goss sich ein Glas ein. Ohne es anzurühren, saß er am Tisch und dachte nach.
Er hatte Recht gehabt. Sein Misstrauen gegen die verdeckte Ermittlung war von Anfang an begründet gewesen. Trotzdem hatte er sich überzeugen lassen, eine so gefährliche Aktion durchzuführen. Er konnte niemandem einen Vorwurf machen. Eisslers Einschätzung stimmte: Er, Marthaler, trug die Verantwortung für das, was geschehen war. Dafür, dass seine Kollegin Kerstin Henschel sich in den Händen eines dreifachen Mörders befand.
Etwas hatte nicht gestimmt. Es war nicht nur die kurze Zeit gewesen, in der dieser Mann namens Armadillo sich gemeldet hatte. Es war noch etwas anderes: Wie hatte es dem Mann gelingen können, Kerstin Henschel noch vor dem verabredeten ersten Treffen in seine Hände zu bekommen? Woher hatte er gewusst, wer sie war und wo sie war?
Marthaler fragte sich, ob sie mit ihren Vermutungen über den auf untreue Ehefrauen spezialisierten Sadisten ganz falsch gelegen hatten. Ob es sich bei dem Mörder um jemanden handelte, den Kerstin schon lange kannte, um jemanden, für den die anderen Morde nur eine Vorbereitung gewesen waren und der es am Ende auf Kerstin Henschel abgesehen hatte. Um einen Mann, dem sie alles anvertraute, der wusste, was sie wann tat. Aber einen solchen Mann gab es nicht. Jedenfalls nicht, soweit Marthaler wusste. Jedenfalls nicht außerhalb des Kreises ihrer Kollegen.
Marthaler erstarrte. Er hatte gerade zum ersten Mal sein Weinglas an die Lippen setzen wollen, als er mitten in der Bewegung innehielt.
Ihm war, als ob sein Herz sekundenlang aussetzte.
Langsam stellte er das Glas wieder ab.
«Verdammter Mist», sagte er zu sich. «Was bin ich nur für ein Idiot. Was bin ich nur für ein riesengroßer, vernagelter Idiot!»
Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Hammerschlages. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Mit einem Mal war er sich sicher. Der Mörder war jemand, der alle Informationen hatte, die sie selbst hatten. Er wusste über jeden Schritt der Polizei Bescheid, weil er selbst ein Polizist war.
Marthaler erinnerte sich, dass er diesen Gedanken nicht zum ersten Mal hatte. Schon damals, als die Frau ermordet worden war, die im Haus von Stefanie Wolfram wohnte, hatte ihn ein solcher Gedanke gestreift. Damals war es nur eine vage Ahnung gewesen, die er rasch beiseite gewischt hatte. Ein Gedanke, der zu ungeheuerlich gewesen war, als dass er ihn zu Ende hätte denken wollen.
Marthalers Herz raste. Gleichzeitig war er wie gelähmt.
Als Tobi die Küchentür öffnete, zuckte er zusammen. Er starrte den Jungen an.
«Ich wollte nur fragen, ob ich uns etwas zu essen machen darf»,
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