Die Braut im Schnee
hörten. Kurz darauf betrat der Chef der Mordkommissiondas neue Sitzungszimmer. Alle spürten, dass er seine Wut nur mühsam beherrschte.
«Ich weiß», sagte Marthaler, «Sie haben versucht, mich anzurufen. Aber mein Handy ist kaputt. Ja, es stimmt, ich war heute Nacht noch einmal am Tatort. Ich wollte versuchen, mir ein genaueres Bild von Gabriele Hasler zu machen und davon, was vorletzte Nacht in dem Haus passiert ist. Ich …»
«Was Sie wollten, ist mir völlig egal.» Herrmann hatte sich ans Fenster gestellt und sah nach draußen. Seine Stimme hatte einen schneidenden Ton. Seine rechte Hand fuhr aufgebracht durch die Luft. «Ich will Folgendes wissen: Stimmt es, dass Sie nicht allein in dem Haus waren? Stimmt es, dass Sie überfallen wurden? Stimmt es, dass der Mann entkommen konnte? Und vor allem will ich wissen, warum Sie nicht unverzüglich eine Fahndung eingeleitet haben.»
«Wie es mir geht, wollen Sie nicht wissen?», fragte Marthaler.
Es war Herrmann anzumerken, dass ihn diese Erwiderung verunsicherte. Er begann zu stottern. «Ja … Entschuldigung … Sie … wie geht es Ihnen?»
«Ich kann weder atmen noch lachen, und wenn ich schlafen will, weiß ich nicht, wie ich mich hinlegen soll. Aber ansonsten geht es mir prächtig. Vor allem freue ich mich über unsere neuen Räume. Vielen Dank. So … und jetzt zu den nächtlichen Vorfällen: Ich weiß nicht einmal mit Sicherheit, ob es ein Mann war, der sich mit mir in dem Haus befunden hat. Wahrscheinlich war es ein Mann, aber ich weiß es nicht. Es war dunkel. Ich wurde durch einen Blitz geblendet, dann hat mich jemand die Treppe hinuntergestoßen und ist verschwunden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Als die beiden Schutzpolizisten, die den Tatort sichern sollten, endlich in ihrem Streifenwagen aufgewacht sind, war es bereits zu spät. Nach wem hätte ich fahnden lassen sollen? Nach allen Männern oderFrauen, die sich gerade in Frankfurt oder Offenbach aufhalten? Und sagen Sie mir, Chef, wie hätten Sie reagiert, wenn Sie von einem solchen Fahndungsbefehl gehört hätten?»
Herrmann sah Marthaler an und schwieg. Dann rückte er mit dem Mittelfinger seine Brille zurecht. «Verstehe», sagte er schließlich, «verstehe. Meinen Sie, es war der …?»
«Nein», unterbrach ihn Marthaler, «ich glaube nicht, dass es der Täter war. Ich glaube, dass es ein Fotograf war, der sich den Tiefschlaf unserer beiden Ordnungshüter zunutze gemacht hat und in das Haus eingedrungen ist, um Aufnahmen zu machen.»
«Ein Fotograf?»
«Ja, anders kann ich mir den Blitz nicht erklären. Es war jemand, der eine Kamera dabeihatte. Und ich denke, wir werden in Kürze in irgendeiner Zeitung die Fotos, die er gemacht hat, zu sehen bekommen.»
Herrmann war zur Tür gegangen.
«Aber dann hätten wir ihn am Haken», sagte er.
«Vielleicht, vielleicht auch nicht», erwiderte Marthaler. «Wie wir wissen, sind Journalisten ziemlich gewitzt.»
Der Leiter der Mordkommission nickte. Es war deutlich, dass er das Interesse an der Sache bereits verloren hatte. Er verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden. Kurz darauf war zu hören, wie draußen der Motor seines Wagens gestartet wurde.
«So», sagte Marthaler, «dann können wir jetzt endlich anfangen zu arbeiten.»
«Schon geschehen», sagte Sven Liebmann und schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr.
«Entschuldige, so war es nicht gemeint», erwiderte Marthaler. «Also, was habt ihr zu berichten?»
Liebmann erzählte, dass er am Morgen den Taxifahrer ausfindig gemacht habe, der Gabriele Hasler zuletzt lebend gesehenhatte. «Ein unangenehmer, ziemlich ruppiger Typ. Er hat sich sofort an sie erinnert. Er nannte sie eine eingebildete Zicke, na ja, die Worte, die er tatsächlich benutzt hat, möchte ich hier nicht wiederholen. Wie es aussieht, hat er sie gar nicht bis nach Hause gebracht. An der Obermainbrücke habe sie verlangt auszusteigen. Weil sie mit einem Zweihundert-Euro-Schein zahlen wollte, den er nicht wechseln konnte, hat es Streit zwischen den beiden gegeben. Der Fahrer war noch immer ziemlich aufgebracht.»
«Meinst du, er könnte etwas mit der Sache zu tun haben? Womöglich war er so wütend, dass er ihr gefolgt ist», sagte Marthaler.
«Robert, bitte! Ich habe das sofort überprüft. Der Mann hat sich umgehend bei der Taxizentrale gemeldet und kurz darauf einen neuen Fahrgast aufgenommen. Er hatte die ganze Nacht Dienst.»
Marthaler nickte. Dann schaute er in die Runde. Kerstin Henschel
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