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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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Dann kippte er den gesamten Inhalt auf den Boden. Vor ihm lagen eine Reihe spitzenbesetzter BHs, winzige seidene Slips, schwarze Netzstrümpfe, Strumpfhalter, ein Paar roter langer Gummihandschuhe, aber auch ein kurzer weißer Krankenschwesternkittel mit einem roten Kreuz darauf. Und eine Schürze und ein Häubchen, wie sie die Kellnerinnen in manchen Cafés trugen.
    Reizwäsche, dachte Marthaler, so haben wir das früher genannt. Er ahnte, dass es ein neueres Wort dafür geben musste, kannte es aber nicht. Er dachte daran, wie er sich als Heranwachsender heimlich im Versandhauskatalog seiner Eltern die Seiten mit Spitzenunterwäsche angeschaut und vergeblich versucht hatte, sich seine Mutter darin vorzustellen. Als er jetzt den Haufen Textilien betrachtete, der vor ihm auf dem Boden lag, kam ihm der Anblick lächerlich vor. Lächerlich und auch ein wenig traurig.
    Er hatte gerade begonnen, die Kleidungsstücke zurück in die Plastiktüte zu stopfen, als er plötzlich zusammenfuhr. Diesmal hatte er sich nicht getäuscht. Da war ein Geräuschgewesen, und es war aus dem Innern des Hauses gekommen. Es hatte geklungen wie das Knarren einer Holzdiele. Er war nicht alleine. Er war ganz sicher: Jemand befand sich in den Räumen des obersten Stockwerks. Irgendwer hatte sich dort bewegt.
    Leise ging er zur Schlafzimmertür, knipste die Deckenlampe aus und betrat das Treppenhaus. Er lauschte in die Dunkelheit. Seine rechte Hand suchte das hölzerne Geländer. Langsam stieg er Stufe um Stufe hinauf. Er schätzte, dass er in der Mitte der Treppe angekommen war, als er stehen blieb. Er wartete. Da war er es wieder. Dasselbe Geräusch wie vor wenigen Augenblicken, nur, dass er es jetzt viel deutlicher hörte.
    Da war jemand. Ganz in seiner Nähe. Er konnte die Gegenwart dieses anderen Menschen förmlich spüren.
    Er hielt den Atem an und tastete nach seiner Dienstwaffe. Bevor er sie zu greifen bekam, hörte er ein Klicken. Ein heller Blitz blendete ihn. Instinktiv riss er den Arm hoch, um seine Augen zu schützen. Im selben Moment bekam er einen heftigen Stoß vor den Brustkorb. Marthaler taumelte, verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts die Treppe hinunter. Ein scharfer Schmerz durchfuhr seinen Rücken. Er lag auf dem Boden und merkte, wie ihm schlecht wurde. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren, während jemand mit lautem Poltern die Treppenstufen heruntersprang und sich an ihm vorbeidrängte. Marthaler streckte die Hand aus und versuchte, seinen Angreifer in der Dunkelheit zu packen, aber er griff ins Leere. Der andere war weg.
    Marthaler wollte um Hilfe rufen, doch seine Stimme versagte. Jeder Atemzug verursachte ihm Schmerzen. Schließlich gelang es ihm, seine Pistole aus dem Holster zu ziehen. Er schoss in die Luft. Er schoss wieder und wieder. Bis das Magazin leer war.
    Für einen Moment herrschte Stille, dann hörte er von draußen Rufe. Mit einem lauten Krachen wurde die Haustür eingetreten. Jemand schaltete das Flurlicht ein. Es war einer der beiden Polizisten aus dem Streifenwagen. Der Uniformierte stand am Treppenabsatz, hatte seine Waffe im Anschlag und schrie Marthaler an, dass er die Hände hochnehmen solle.
    Robert Marthaler schloss die Augen und nickte. Am liebsten hätte er gelacht. Er saß auf dem Boden und hielt beide Hände in die Luft gestreckt. Seine Dienstpistole lag neben ihm.
    Endlich erkannte der andere ihn und begann, eine Entschuldigung zu stottern.
    «Habt ihr ihn?», fragte Marthaler.
    Die Verwirrung des Schutzpolizisten hätte nicht größer sein können. «Wen sollen wir haben?»
    Resigniert schüttelte Marthaler den Kopf. «Schon gut», sagte er. «Niemanden.»
    «Soll ich einen Arzt rufen? Was ist überhaupt passiert?»
    «Nichts», sagte er. «Es ist gar nichts passiert. Bringt mich bitte nach Hause.»
    Der Schutzpolizist zögerte. «Aber   … wir haben den Auftrag, das Haus zu bewachen», sagte er schließlich.
    Dem Hauptkommissar fehlte die Kraft zu einem Wutanfall.
    «Ihr habt den Auftrag, mich nach Hause zu fahren», sagte er leise. Unter Mühen gelang es ihm aufzustehen. Als der andere ihm helfen wollte, wehrte er ihn ab. Marthaler ging zum Streifenwagen, öffnete die Tür und ließ sich auf die Rückbank sinken. Jeder Atemzug, jede Bewegung, jedes Wort bereiteten ihm Schmerzen.
    Er nannte dem Fahrer seine Adresse. Die zögerlichen Fragen der beiden Uniformierten beantwortete er mit Schweigen. Als sie zehn Minuten später vor seiner

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