Die Braut im Schnee
vor wie ein Jäger, der gute Beute gemacht hat. Sobald er Zeit hatte, würde er Tereza aufsuchen. Nicht sofort, aber bald.
An der U-Bahn -Station Höhenstraße stieg er aus. Er lief den Alleenring entlang, vorbei an den Secondhand-Läden und den Büdchen, vor denen trotz des winterlichen Wetters wie immer ein paar Männer standen und ihr Flaschenbier tranken. Als er das große Elektronikgeschäft passiert hatte, warf er einen Blick nach links in die Burgstraße, wo die Martin-Luther-Kirche stand, deren heller Turm im Sonnenlicht glänzte. In dieser Kirche hatte vor über achtzehn Jahren die Trauerfeier für seine Frau stattgefunden. Katharina war, kurz vor Beginn ihres Examens, in der Sparkassenfiliale in einen Überfall geraten und von einem der Räuber angeschossen worden. Sie hatte zwei Wochen auf der Intensivstation des Marburger Universitätsklinikums gelegen, dann war sie gestorben.
Damals hatte Marthaler sich gewünscht, er wäre an KatharinasStelle. Er hatte sich ins Bett gelegt und aufgehört zu sprechen. Eine Zukunft ohne seine Frau war ihm sinnlos erschienen. Und bis heute kam es ihm oft so vor, als sei die Erinnerung an die Zeit mit Katharina noch immer das Kostbarste, was er besaß. Es hatte lange gedauert, bis sein Lebenswille wieder groß genug war, dass er Entscheidungen treffen konnte. Als es so weit war, dass er das Bett verließ und wieder zu sprechen begann, hatte er beschlossen, sich um eine Stelle bei der Polizei zu bewerben. Fünfzehn weitere Jahre hatte er geglaubt, für eine Frau nie wieder etwas anderes empfinden zu können als freundschaftliche oder kollegiale Gefühle. Dann war ihm Tereza begegnet.
Hinter dem grünen Hochhaus bog er nach rechts in die Günthersburgallee ab. Die beiden Fahrbahnen waren mit Kopfstein gepflastert und durch einen breiten bepflanzten Mittelstreifen getrennt. Am oberen Ende der Straße sah man den Eingang des Parks, der denselben Namen trug wie die Allee. Marthaler suchte nach der Nummer, die Herrmann ihm genannt hatte. Dann entdeckte er das Gebäude. Es stand auf der linken Seite. Seine frisch geweißte Fassade glänzte inmitten der anderen Bürgerhäuser, die es umgaben. Es hatte fünf Stockwerke; das Dach war mit grauem Schiefer gedeckt. Sofort wusste Marthaler, dass er sich hier, in diesem Viertel, in diesem Haus wohl fühlen würde. Und er wusste auch bereits, welchen Spitznamen er dem neuen Domizil der Mordkommission geben würde: Er würde es das Weiße Haus nennen.
Es war, wie er erwartet hatte. Vor dem Eingang stand ein Umzugswagen. Die Möbelpacker schleppten Kisten, Schreibtische und Stühle ins Haus. Im Treppenflur herrschte Chaos. Überall stapelten sich die Kartons mit den Akten. Ein Handwerker kam aus der Wohnung im Erdgeschoss und fluchte. Als Marthaler sich an ihm vorbeidrängen wollte, wurde er angeschnauzt:«Kommen Sie nur rein! Einer mehr, der hier was zu sagen hat und im Weg rumstehen will.»
Marthaler grinste. Dann sah er seine Sekretärin. Elvira lief aufgeregt durch die Räume und versuchte, ein wenig Ordnung in das Durcheinander zu bringen.
«Bitte, Robert», rief sie ihm zu, «fang du jetzt nicht auch noch an, Anweisungen zu geben. Geh einfach durch zu den anderen. Gerade ist es mir gelungen, die ganze Bande in das hintere Zimmer zu scheuchen.»
Die Bande, das waren die Kollegen Liebmann, Döring, Petersen und Henschel. Sie waren dabei, aus dem großen leeren Raum ein provisorisches Sitzungszimmer zu machen, indem sie zwei Tische zusammenrückten und Stühle darum gruppierten. Marthaler blieb im Türrahmen stehen.
«Fein», sagte er, «dann haben wir ja alles, was wir brauchen. Lasst uns gleich anfangen.»
Die anderen drehten sich um und sahen ihn erstaunt an. Kai Döring verdrehte die Augen.
«Irgendwas nicht in Ordnung?», fragte Marthaler.
«Weißt du, wie spät es ist, Robert?», sagte Kerstin Henschel. «Wir warten seit zwei Stunden auf dich. Herrmann hat schon mehrmals angerufen. Es geht das Gerücht, du seiest überfallen worden. Wir haben uns Sorgen gemacht. Und jetzt spazierst du hier gut gelaunt rein und übernimmst das Kommando. Du könntest wenigstens dein Handy eingeschaltet lassen.»
Marthaler zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. Er sah, dass es zerbrochen war. Es hatte den nächtlichen Sturz nicht überstanden. «Gut», sagte er, «setzen wir uns. Dann werde ich euch berichten.»
Er wollte gerade anfangen, von seinem Besuch in Gabriele Haslers Haus zu erzählen, als sie von draußen Herrmanns Stimme
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