Die Braut im Schnee
Arbeitsweise der amerikanischen Polizei bewunderten. Was in den USA richtig war, konnte in Europa falsch sein. Man durfte die Methoden der Ermittlung nicht einfach übernehmen. Er wusste,dass es gut war, von anderen zu lernen, aber mehr noch war er davon überzeugt, dass jeder neue Fall etwas Einzigartiges war. Dass es darauf ankam, sich ganz auf die besonderen Umstände zu konzentrieren. Auch wenn es immer wieder Ähnlichkeiten gab: Kein Opfer war wie das andere. Und kein Täter war wie der andere.
«Gut», sagte er. «Dann haben wir also einen Mord-Tisch … Wie gehen wir jetzt vor? Jemand sollte das Material sichten, das die Spurensicherung am Tatort eingepackt hat. Es macht mich stutzig, dass ich im Haus keinerlei private Notizen gefunden habe, kein Adressbuch, kein Tagebuch – nichts dergleichen. Jemand sollte die Kartons, die Schillings Leute abtransportiert haben, daraufhin durchsehen. Vielleicht müssen wir auch die Praxis am Friedberger Platz noch einmal unter die Lupe nehmen. Wer will das machen?»
Döring und Liebmann sahen sich an und nickten gleichzeitig.
«Gut», sagte Marthaler, dann wandte er sich an Manfred Petersen: «Vielleicht kannst du dich einmal bei den Kollegen von der Sitte umhören. Frag sie, welche offenen Fälle sie haben. Vielleicht findet sich unter ihren Klienten der ein oder andere, dem eine solche Sache zuzutrauen ist. Und ich würde mir gerne den Bräutigam des Opfers vorknöpfen, bevor wir ihn endgültig aus dem Gewahrsam entlassen müssen. Ist die Sache mit seinem Alibi jetzt eigentlich geklärt?»
Kerstin Henschel hob den Kopf. Bevor sie antworten konnte, betrat Marthalers Sekretärin den Raum. «Entschuldigt die Störung», sagte Elvira, «die Rechtsmedizin ist am Apparat. Wer will?»
Marthaler nahm den Hörer und meldete sich. Er nickte ein paarmal, ohne mehr als einige zustimmende Laute von sich zu geben. Dann schaltete er das Telefon aus und schaute stumm in die Runde. Die anderen sahen ihn an.
«Also?», sagte Kai Döring und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. «Spielen wir Stille Post oder verrätst du uns, was los ist?»
Marthaler atmete aus. «Das war Dr. Herzlich. Er sagt, sie hätten Abstriche von Gabriele Haslers Leichnam genommen. Er hat gerade die Ergebnisse bekommen. Er will, dass ich am Nachmittag in sein Institut komme, um bei der äußeren Besichtigung dabei zu sein. Er hat festgestellt, dass Gabriele Hasler nicht vergewaltigt wurde. Es gebe keinerlei Spuren, die auf einen Geschlechtsverkehr hinweisen. Ich frage mich, über was wir dann die ganze Zeit reden?»
Die anderen waren ebenfalls ratlos.
Schließlich schüttelte Kerstin Henschel heftig den Kopf, sodass ihr Pferdeschwanz auf und ab wippte. «Egal», sagte sie, «das muss nichts bedeuten. Robert, tu mir einen Gefallen. Sprich mit ihm über Sex.»
Marthaler sah sie verwundert an. «Ich soll was? Mit wem soll ich über Sex sprechen?»
«Mit dem Verlobten. Befrag ihn zu seinen und ihren sexuellen Vorlieben, dazu, wie oft und auf welche Weise er und seine Verlobte miteinander geschlafen haben. Auf was auch immer dieser Mord sonst noch hinweisen mag, er hat etwas mit Sex zu tun. Auch wenn die Frau nicht vergewaltigt wurde.»
Marthaler dachte an das Päckchen mit den Kondomen und an die Wäsche, die er im Kleiderschrank der Toten entdeckt hatte. Er nickte. «Gut», sagte er, «aber dann bitte ich dich, dabei zu sein, wenn ich mich mit dem Bräutigam unterhalte.»
Kerstin Henschel hob die Augenbrauen. Dann lächelte sie. «Okay. Wann wollen wir ihn vernehmen?»
«So bald wie möglich. Am besten jetzt gleich.»
«Gut. Aber zuerst muss ich etwas essen.»
ACHT
Eine halbe Stunde später betraten sie die Kantine des Präsidiums. Die Mittagszeit war fast vorbei, und so fanden sie an einem der Tische auf der Galerie Platz. Marthaler hatte einen Teller Salat mit Joghurtdressing und ein Glas Mineralwasser bestellt.
«Willst du etwa abnehmen?», fragte Kerstin Henschel, während sie sich eine Portion Spaghetti Bolognese auf die Gabel drehte.
«Wieso sollte ich abnehmen wollen?»
«Weil du irgendwann vielleicht mal auf der Waage gestanden und festgestellt hast, dass es nötig wäre.»
Marthaler antwortete nicht. Er merkte, wie ihm unbehaglich zumute wurde. Er mochte nicht über seinen Körper sprechen; er vermied es sogar, darüber nachzudenken. Er hoffte, dass seine Kollegin das Thema wechseln würde, wenn er sich weigerte, darauf einzugehen. Den Gefallen tat sie ihm nicht.
«Im
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