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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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wollte. Weder war er stolz auf das, was er getan hatte, noch war er entsetzt darüber. Er war lediglich verwundert. Er konnte sich nicht daran erinnern, außerhalb seines Dienstes jemals Gewalt angewendet zu haben. Und jetzt hatte er einen Fremden geschlagen, ohne dass es dafür einen vertretbaren Grund gab. Er hatte einen Fremden angegriffen, und dieser hatte sich nicht gewehrt. Wenn der andere ihn anzeigte, konnte das bedeuten, dass Marthaler seine Stelle verlor. Womöglich sogar seine Pensionsberechtigung. Trotzdem: Das machte ihm keine Sorgen. Sorgen machte ihm nur Terezas Reaktion. Wahrscheinlich hatte er alles zerstört. Jeder Versuch, ihr etwas zu erklären, wäre jetzt lächerlich. Und doch bedauerte er nichts. Es kam vor, dass Männer einander schlugen, wenn es um Frauen ging. Das war alles.
    Er ging die Mainzer Landstraße entlang und wich den Autos aus, von deren Reifen der Schneematsch bis auf den Bürgersteig spritzte. Als ihm ein freies Taxi entgegenkam, winkte er. Er öffnete die hintere Wagentür und setzte sich auf die Rückbank. Auf die Frage des Fahrers, wo er hinwolle, wusste er keine genaue Antwort. «In die Stadt», sagte er.
    Am Hauptbahnhof stieg er aus. Er hatte Lust, in eine der billigen Stripteasebars zu gehen, ein paar Biere zu trinken und den Mädchen zuzuschauen, die sich langsam auszogen und dann schnell wieder verschwanden. Vorher würde er noch eine Kleinigkeit essen. Er wollte über nichts nachdenken,was heute geschehen war, sondern so lange trinken, bis er müde genug war, um nach Hause zu fahren und zu schlafen.
    Vom Kaisersack kommend, überquerte er die Moselstraße. Als er am erleuchteten Fenster eines italienischen Restaurants vorbeikam, hielt er inne. Er war sich nicht sicher, aber an einem der Tische meinte er Thea Hollmann zu erkennen. Als er näher an die Scheibe trat, hob die Frau den Kopf. Sie war es wirklich. Sie sah ihn verwundert an, dann gab sie ihm ein Zeichen, dass er hereinkommen solle.
    Er betrat das Restaurant und blieb etwas unschlüssig vor ihrem Tisch stehen. «Ich will nicht stören», sagte er.
    Thea Hollmann zeigte auf die drei freien Stühle. «Sehen Sie hier jemanden, den Sie stören könnten? Dann brauche ich Sie wenigstens morgen nicht anzurufen. Leisten Sie mir Gesellschaft, wenn Sie nichts Besseres vorhaben. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich heute nicht die beste Unterhalterin bin. Kommen Sie   …»
    «Ja», sagte Marthaler. «Gerne.» Er brachte seinen Mantel zur Garderobe und setzte sich auf den Platz ihr gegenüber. Er war ein wenig befangen und wusste nicht, wie er das Gespräch mit der jungen Rechtsmedizinerin beginnen sollte.
    «Warum hätten Sie mich morgen anrufen wollen?», fragte er.
    «Weil wir bei der Besichtigung des Leichnams noch etwas entdeckt haben, was Sie noch nicht wissen. Aber Sie hatten es vorhin so eilig   …»
    «Was?», fragte Marthaler, ohne sie ausreden zu lassen. «Was haben Sie entdeckt?»
    «Vernarbtes Gewebe. Die Tote hatte Narben, die auf alte Verletzungen hindeuten. Dabei handelt es sich sowohl um verheilte Brandwunden als auch um alte Fessel- und Würgemale.»
    «Wie alt? Wie lange ist es her, dass ihr diese Verletzungen zugefügt wurden?»
    «Vorsichtig geschätzt: ein paar Jahre.»
    «Und was schließen Sie daraus?», fragte Marthaler.
    «Nichts», sagte Thea Hollmann. «Ich schließe gar nichts. Ich stelle es nur fest. Die Schlüsse müssen Sie ziehen.»
    Marthaler nickte. Diese Antwort kannte er. Es war die typische Antwort einer Naturwissenschaftlerin. Er wusste nicht, was er von dieser neuen Information halten sollte. Darüber würde er in Ruhe nachdenken und sich mit den Kollegen beraten müssen. Aber er merkte, wie sehr ihn beunruhigte, was er gerade erfahren hatte.
    «Darf ich Ihnen etwas empfehlen? Haben Sie großen Hunger?», fragte Thea Hollmann.
    «Nein   … doch   … aber ich will abnehmen», sagte er.
    «Gute Idee», sagte sie und lächelte ihm vollkommen arglos zu. «Dann nehmen Sie am besten was Mageres vom Grill.»
    «Sind Sie öfter hier?»
    Sie nickte. «Ja, ich wohne hier um die Ecke.»
    «Hier? Im Bahnhofsviertel? Eine allein stehende Frau?»
    «Wie kommen Sie denn darauf, dass ich allein stehend bin?»
    «Oh, Entschuldigung, ich dachte nur   …»
    «Nein, nein. Sie haben ja Recht. Aber ich wusste nicht, dass man mir das ansieht   … Wie wär’s mit dem apulischen Rinderspieß? Und dazu ein Roter aus derselben Gegend. Ich lade Sie ein.»
    Während sie noch in der

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