Die Braut im Schnee
uns nicht getroffen hätten?»
Für ein paar Sekunden war Marthaler versucht, ihr eine harmlose Lüge aufzutischen. Dann überwog seine Neugier, zu sehen, wie sie auf die Wahrheit reagierte. «Ich wäre in ein Stripteaselokal gegangen», sagte er.
Sie schien sich nicht einmal zu wundern. «Um was zu tun?», fragte sie.
«Zu schauen und zu trinken», antwortete er.
«Sonst nichts?»
«Sonst nichts!»
«War wohl auch für Sie kein so toller Tag, wie?!»
Er lachte. «Nein, war kein toller Tag. Aber jetzt werde ich mir ein Taxi bestellen, nach Hause fahren und versuchen zu schlafen.»
«Nein, Herr Hauptkommissar», sagte sie. «Ich glaube, das werden Sie nicht tun. Ich glaube, Sie werden jetzt die fröhliche Thea Hollmann nach Hause begleiten und noch auf ein Glas Wein mit ihr auf die Bude kommen.»
Thea Hollmann behielt nur zur Hälfte Recht. Der Herr Hauptkommissar begleitete sie nach Hause, aber Wein wurde nicht mehr getrunken.
Ihre Wohnung lag, unweit des Bahnhofs, in jenem Teil der Münchener Straße, wo Marthaler bei einem spanischen Lebensmittelhändler gelegentlich seinen Käse und Schinken, manchmal auch Tintenfisch, Peperoni und eingelegte Oliven kaufte. Hier gab es türkische Import-Export-Läden, einen afrikanischen Friseur, winzige asiatische Restaurants, marokkanische Gemüsestände und zahllose Döner-Buden. Obwohl man in den vergangenen Jahren immer wieder versucht hatte, die meist mittellosen Einwanderer, die Prostituierten und kleinen Dealer aus dem Viertel zu vertreiben, um so ein vermeintlich sauberes Entree in die Stadt zu schaffen, war es diesem Milieu immer wieder gelungen, sich neue Plätze zwischen den Hochhäusern der Banken und den Büros der Fluggesellschaften zu erobern. So trafen hier auf engstem Raum die Vorstände der großen Geldinstitute mit den Ärmsten der Stadt zusammen. Marthaler wusste, dass seine Kollegen und er noch längst nicht genug gegen den Menschen- und Drogenhandel unternahmen. Dennoch wussten sie alle, dass die wirklich schlimmen Verbrechen ein paar Stockwerke höher geplant und ausgeführt wurden. Und dass das eine viel mit dem anderen zu tun hatte.
«Hier hinein», sagte Thea Hollmann und schob Marthaler durch einen Torbogen in den finsteren Hinterhof. Während er hörte, wie sie nach dem Schlüsselbund kramte, vergrub er seine Hände in den Manteltaschen und schaute zwischen den Hauswänden in den schwarzblauen Nachthimmel empor. Er merkte, wie ihm schwindelig wurde. Rasch senkte er den Kopf, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, um die Wirkung des Weins zu mildern.
«Es wird wieder kälter», sagte er. «Man sieht den Großen Wagen.»
«Scheiße», sagte Thea Hollmann, «das Flurlicht ist schon wieder kaputt. Gib mir deine Hand.»
Sie zog ihn hinter sich her die dunkle Treppe hinauf bis zum ersten Stock.
Als sie das Licht in ihrer Wohnung angeknipst hatte, drehte sie sich zu ihm um und grinste. «Hast du gemerkt? Gerade habe ich dich geduzt.»
Marthaler zog seinen Mantel aus und grinste ebenfalls. «Ich bin betrunken», sagte er.
«Das ist keine Entschuldigung», erwiderte sie. «Ich mache uns einen Espresso.»
Er folgte ihr in die enge Küche. Während sie Wasser zapfte und das Kaffeepulver in die Maschine füllte, schaute er auf die Linie ihres Nackens, die sich unter dem Ansatz ihrer kurzen Haare abzeichnete. Plötzlich hielt sie inne. Ihr Oberkörper bebte. Marthaler merkte, dass sie weinte.
«Was ist?», fragte er leise.
Sie antwortete nicht. Er ging einen Schritt auf sie zu und legte seine Hände von hinten auf ihre Schultern. «Warum weinst du? Was ist mit dir?»
«Nichts …», sagte sie. «Alles.» Und versuchte zu lachen. «Entschuldige.»
Erst jetzt drehte sie sich zu ihm um. Noch im Schluchzen begann sie ihn zu küssen. So heftig und lange, bis Marthaler die Zunge schmerzte.
«Komm», sagte sie und wartete, dass er ihr ins Nebenzimmer folgte.
Langsam zogen sie einander in der Dunkelheit aus. Sie sprachen nicht. Als sie sich auf den Boden legte, tat er es ihr gleich. Einmal stöhnte er vor Schmerzen auf. Einen Moment lang hatte er nicht an seinen aufgeschürften Rücken gedacht. Dann entspannte er sich wieder. Sie fuhr mit ihren Händen über seine Haut. Er tat dasselbe bei ihr. Sie schnauften.Manchmal kicherte sie. Bald fassten sie einander mit einer Gier an, als wollten sie jede Erinnerung an den vergangenen Tag auslöschen. Sie rollte sich auf den Rücken und zog ihn auf sich.
Ohne aufzustehen, knipste
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