Die Braut im Schnee
dass am Ende dieses Tages einige ihr Berufsziel noch einmal überdenken würden. Und er hatte den Eindruck, dass dies in Thea Hollmanns Absicht lag. Er wunderte sich über die Bestimmtheit, mit der die junge Rechtsmedizinerin auftrat. Obwohl sie selbst ihr Studium noch nicht lange abgeschlossen haben konnte, zeugten ihreWorte von einer großen persönlichen Reife. Alles, was sie sagte, wirkte ebenso ernsthaft wie entschlossen.
«Heute werden wir uns auf die äußere Besichtigung der Leiche beschränken. So, wie Sie die Frau hier sehen, ist sie gestern Morgen vor ihrem Haus gefunden worden: kniend, halb nackt, leblos. Noch am Fundort wurde die Körpertemperatur mittels einer Rektalsonde gemessen. Setzt man dazu die Körpermasse und die Umgebungstemperatur in Beziehung, dürfte der Tod gegen Mitternacht eingetreten sein. Da der erste Augenschein ein Sexualverbrechen nahe legte, haben wir umgehend Abstriche sowohl im Vaginal-, im Analals auch im Mundbereich vorgenommen. Ohne Ergebnis … Aber folgen wir den Leitlinien, gehen wir systematisch vor: Untersuchen wir zunächst die Bekleidungssituation.»
Eine der Studentinnen zog einen Stift und einen Block hervor und begann mitzuschreiben. Sofort kramten auch die anderen in ihren Taschen. Thea Hollmann schaute kurz in die Runde und wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war.
«Beine und Füße sind nackt. Der Slip wurde bis auf die Fußknöchel heruntergerollt. Die Tote trägt einen schwarzen halblangen Rock, der bis zu den Hüften hochgeschoben wurde. Ihr gesamter Unterleib ist entblößt. Der Oberkörper ist mit einer weißen, langärmligen Bluse und einem dünnen, schwarzen Pulli bekleidet. Sämtliche Kleidungsstücke waren zum Zeitpunkt der ersten Augenscheinnahme durchnässt und zum Teil mit Schmutzpartikeln behaftet. Eine fotografische Dokumentation hat stattgefunden.»
Thea Hollmann unterbrach ihren Bericht. Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann hörte man ein lautes metallisches Klirren. Dr. Herzlich hielt eine große Schere in der Hand und näherte sich der Leiche. Offenbar hatte er vorübergehend die Rolle des Assistenten übernommen. Mit ein paar geschickten Handbewegungen schnitt er sowohl den Pulli alsauch die Bluse auf. Ohne den Leichnam berühren zu müssen, entfernte er beide Kleidungsstücke vom Körper der Toten und unterzog die Textilien einer kurzen Inspektion. Er packte die Asservate in zwei Plastikschüsseln, durchtrennte dann mit einem einzigen Schnitt den Slip und legte ihn in einen dritten Behälter. «Aufbewahren!», krächzte er und hob dabei den Zeigefinger in die Höhe. «Labor … Anhaftungen untersuchen.» Die Studenten hatten verstanden. Sie nickten. Dann ergriff Thea Hollmann wieder das Wort.
«Ich darf Sie jetzt bitten, näher zu kommen. Wir dürfen nichts übersehen. Jedes Detail ist wichtig und lässt Rückschlüsse auf den Tathergang zu.»
Nein, dachte Marthaler, ich muss gar nichts mehr sehen. Mir reicht es, wenn ich höre. Er trat ein paar Schritte zurück und machte Platz für die Studenten. Er lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Jedes Wort, das Thea Hollmann sagte, grub sich in sein Gedächtnis ein.
Die Rechtsmedizinerin stellte fest, dass Teile vom Kopfhaar Gabriele Haslers gewaltsam ausgerissen worden waren. Wahrscheinlich war das Opfer zeitweise mit einem breiten Isolierband geknebelt worden. Das Gesicht der Toten war aufgedunsen, Lippen und Fingernägel waren bläulich verfärbt – eine Folge von Sauerstoffmangel. Die Augäpfel wiesen punktartige Blutungen auf, die Lider, das Jochbein und die Stirn zeigten flächige Blutergüsse. Der gesamte Hals war umgeben von einer horizontal verlaufenden Strangulationsmarke, ein deutliches Zeichen, dass Gabriele Hasler mit einer Schlinge erdrosselt worden war. An Hand- und Fußgelenken entdeckte Thea Hollmann übereinander gelagerte Quetsch- und Scheuermale verschiedener Herkunft, was Dr. Herzlich vermuten ließ, dass das Opfer während des Tathergangs mehrfach gefesselt worden war – mal mit Handschellen, mal mit Kabelbindern. Der Körper war übersät mit Brand- undQuetschwunden, die der Frau noch zu Lebzeiten, aber erst kurz vor ihrem Tod zugefügt worden waren. Zahlreiche Faserreste in den Wunden deuteten darauf hin, dass sie während ihres Martyriums wiederholt gezwungen worden war, die Kleidung zu wechseln.
«Was ist mit Fremdgewebe?»
Alle drehten sich zu Marthaler um, der diese Frage gestellt hatte. Er hoffte, dass Gabriele Hasler sich gewehrt und
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