Die Braut im Schnee
Speisekarte blätterte, sah Marthaler die Rechtsmedizinerin an. Am Nachmittag, als sie ihn beim Pförtner abgeholt hatte, war sie ihm noch so frisch und unbelastet vorgekommen. Jetzt war sie blass, sie wirkte abgespannt und müde.
«Sie sehen erschöpft aus», sagte er.
«Na, dann geben wir ja ein feines Paar ab: der dicke Kommissar und die erschöpfte Rechtsmedizinerin.»
«Finden Sie mich wirklich so … dick?»
Sie lachte. «Nein. Aber ein bisschen zu kräftig.» Dann hob sie rasch die Hand, um den Kellner zu rufen. Marthaler überließ es Thea, die Bestellung aufzugeben. Als sie wieder ungestört waren, wiederholte er seine Frage. «Und? Was ist nun mit Ihnen? Hat der Tag Ihnen zugesetzt?»
Sie sah ihn lange an.
«Was glauben Sie denn, warum in unserem Beruf fast alle trinken, Tabletten schlucken oder sich auf andere Weise betäuben? Jeder Tag setzt einem zu. Alle tun so, als würde es ihnen nichts ausmachen, jeder macht seine Witzchen, jeder lenkt sich ab. Aber es ist nicht auszuhalten. Nicht ständig. Nicht ein ganzes Berufsleben lang.»
«Aber es muss getan werden … Und zu den Studenten haben Sie gesagt …»
Sie unterbrach seinen Einwand: «Ich weiß, was ich gesagt habe. Und ich habe es so gemeint. Aber wissen Sie: Ich gehe manchmal durch die Stadt und habe das Gefühl, als würde ich schon jetzt nicht mehr dazugehören, als sei ich … ich weiß nicht …»
«Als seien Sie der Welt abhanden gekommen.»
«Ja, das ist eine schöne Formulierung», sagte sie.
Eine Weile saßen sie einander schweigend gegenüber und stocherten in ihrem Essen. Marthaler überlegte, ob er das Gespräch auf ein anderes, weniger ernstes Thema lenken sollte. Aber er hatte den Eindruck, dass Thea Hollmann über ihren Beruf reden wollte, dass sie es als Erleichterung empfand, sich auszusprechen.
«Wenn man jeden Tag sehen muss, was die Menschen einander antun, dann zweifelt man irgendwann daran, dass es sich bei uns wirklich um eine entwickelte Gattung handelt», sagtesie. «Es gibt Tage, an denen ich mir wünsche, die Menschen würden diesen Planeten verlassen, damit der Rest der Natur endlich einmal seine Ruhe vor uns hat.»
Marthaler schwieg. Er konnte sie verstehen, aber er fand, dass Thea Hollmann zu jung war für eine solche Haltung. Trotzdem ließ er sie ausreden.
«Es gibt auch andere, unbeschwerte Tage. Aber sie werden seltener. Tage, an denen ich jeden auf der Straße anhalten und jeden, der mir begegnet, nach seiner Geschichte fragen möchte. Neugierige Tage, an denen das Leben Spaß macht.»
«Und», fragte Marthaler, «heute war wohl kein solcher Tag?»
«Nein», sagte sie mit großer Bestimmtheit. «Heute war ein Scheißtag!»
«Und was macht Ihnen Freude?»
Sie überlegte lange. Sie trank einen großen Schluck Rotwein und stellte das Glas wieder ab. Marthaler sah, dass ihre Hand ein wenig zitterte.
«Die Sonne», sagte sie. «Die Sonne macht mir Freude. Und früher, während des Studiums, habe ich gerne Filme geschaut. Aber seit meiner ersten Stelle in der Rechtsmedizin bin ich kaum noch ins Kino gegangen. Eine Weile habe ich mir Videos und DVDs ausgeliehen. Aber selbst darauf kann ich mich nicht mehr konzentrieren. Bis vor kurzem war ich mit einem Mann zusammen. Er hat sich von mir getrennt, weil er es nicht mehr aushielt, dass ich jeden Abend vor dem Fernseher hocke, Rotwein trinke und Löcher in die Luft starre. Er ist einfach gegangen.»
Sie schaute auf den Tisch. Dann prostete sie Marthaler zu. «Wenn das kein Grund zum Trinken ist.»
«Wissen Sie, dass Sie einen Verehrer haben?», fragte er.
«Das ist nicht wahr … Hat Dr. Herzlich Ihnen etwa ein Geständnis abgelegt?»
«Der also auch? Nein, ich rede nicht von Dr. Herzlich. Ich spreche von Füchsel.»
Sie sah Marthaler entgeistert an. Dann kicherte sie und schüttelte ungläubig den Kopf.
«Warum lachen Sie», fragte er. «Finden Sie es unpassend, dass ein Hausmeister sich in eine Medizinerin verliebt?»
«Nein, gar nicht», sagte sie ernst. «ich finde Füchsel sogar ganz charmant. Und es heißt, er sei mit den Fingern recht geschickt. Aber erstens wusste ich nichts von seiner Zuneigung. Zweitens bin noch lange nicht wieder so weit …»
«Und drittens?»
«Drittens fährt er einen gelben Porsche.»
Marthaler lachte. «Ja», sagte er, «das ist allerdings ein echter Ablehnungsgrund. Aber hübsch pfeifen kann er schon!»
«Und Sie», fragte Thea Hollmann, «was hätten Sie heute Abend gemacht, wenn wir
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