Die Braut im Schnee
Oberarme ab.
«Da bin ich», sagte er.
Die anderen schwiegen. Niemand schien zu wissen, was er antworten sollte.
Dann ging Manfred Petersen zum Fenster und ließ die Rollläden herunter.
FÜNFZEHN
Das Sitzungszimmer war dunkel. Die einzige Lichtquelle war das Bild, das der Beamer an die Wand warf. Dort sah man die Fotos von zwölf Personen. Es waren ausnahmslos Männer. Manche machten einen gepflegten Eindruck, andere wirkten verwahrlost. Es waren ältere darunter, aber auch junge. Auf einigen Gesichtern konnte man einen Ausdruck von Angst oder Eingeschüchtertheit erkennen, auf den meisten jedoch Trotz und Härte. Die Aufnahmen waren jeweils bei der Verhaftung dieser Männer gemacht worden.
Manfred Petersen drückte auf einen Knopf, und es erschienen zwölf weitere Bilder. «Wie ihr seht, haben mir die Kollegen der Sitte ihr elektronisches Fotoalbum zur Verfügung gestellt», sagte er. «Eine große Anzahl der Verurteilten konnte ich von vornherein ausschließen, da sie entweder inzwischen gestorben sind oder gerade ihre Haftstrafen verbüßen. Übrig geblieben sind dreiundfünfzig Kandidaten, die wir uns anschauen sollten. Der letzte bekannte Wohnsitz all dieser Männer ist Frankfurt oder ein Ort in der Umgebung. Jeder von ihnen ist ein Dreizehner. Alles, was zwischen 174 und 184 möglich ist, haben sie auf dem Kerbholz.»
«Manfred, bitte …», unterbrach ihn Marthaler.
Petersen hob entschuldigend beide Hände. «Okay, okay. Im dreizehnten Abschnitt des Strafgesetzbuches werden die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung behandelt. Das geht von Paragraph 174 ‹Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen› bis Paragraph 184 ‹Jugendgefährdende Prostitution›. Der Paragraph 175 ist, wie ihr alle wisst, Gott sei Dank inzwischen weggefallen.»
Manfred Petersen zögerte einen Moment, so, als sei er sich nicht sicher, ob er auch das noch erläutern müsse.
«Schon gut», sagte Kai Döring in die Dunkelheit, «du meinst den Schwulen-Paragraphen.»
«Genau. Aber jetzt zu unseren Burschen hier. Es gibt keine Sauerei, die von ihnen nicht begangen wurde. Ich habe versucht, eine Rangliste aufzustellen. Die besonders schweren Fälle und die Wiederholungstäter sollten wir sofort überprüfen, die anderen dann, wenn wir Zeit dazu haben.»
Petersen klickte auf eines der Fotos, das jetzt in voller Größe erschien. Es war das schmale Gesicht eines Mannes zu sehen, dessen dunkle Augen unbeirrt in die Kamera des Polizeifotografen blickten. «Fangen wir mit diesem an: Marko Anschütz, heute sechsundvierzig Jahre alt. Stammt aus einem Dorf im Bayerischen Wald. Er kam Mitte der Sechziger mit seiner Mutter nach Frankfurt. Ist schon auf dem Schulhof durch seine hohe Gewaltbereitschaft aufgefallen. Oder vielleicht hätte ich besser sagen sollen: auf den Schul
höfen
, denn er hat mehrmals wechseln müssen. Noch als Kind hat er zusammen mit älteren Freunden eine Baubude angesteckt, später einen Kiosk überfallen. Er war sechzehn, als er versucht hat, seine vierzehnjährige Schwester an eine Gruppe jugoslawische Gastarbeiter zu verkaufen. Mit siebzehn hat er angeblich eine Fünfunddreißigjährige, die er in einem Lokal in Alt-Sachsenhausen kennen gelernt hatte, mit K.-o.-Tropfen betäubt und dann vergewaltigt. Die Frau hat ihre Aussage später zurückgezogen und behauptet, alle Handlungen seien mit ihrem Einverständnis geschehen. Es wurde vermutet, dass Anschütz Druck auf sie ausgeübt hat.
Er war noch nicht volljährig, als er sich immer häufiger im Bahnhofsviertel und in der Alten Gasse herumtrieb. Mal kam er als Freier, mal saß er einfach in den Lokalen herum und versuchte, Kontakt zum Milieu zu bekommen, was ihmzunehmend gelang. Er war bekannt für seine Brutalität, besonders Frauen gegenüber. Es wird behauptet, die Zuhälter hätten sich seiner gerne bedient, wenn es darum ging, den Widerstand der Mädchen zu brechen.
Im Februar 1990 wurde in einem Waldstück hinter Niederursel die Leiche einer jungen Vietnamesin gefunden. Sie war vor ihrem Tod von fünf Männern vergewaltigt worden. Einer davon war Marko Anschütz. Alle fünf wurden gefasst und verurteilt. Anschütz bekam zwölf Jahre. Bei seiner Vorgeschichte und seinem Ruf war das ein mildes Urteil, was daran lag, dass seine Rolle bei der Sache nicht genau geklärt werden konnte. Selbst die Mittäter schienen Angst vor ihm zu haben und versuchten, ihn zu decken. Inzwischen ist er wieder draußen. Es heißt, er habe seine Stellung im Milieu
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