Die Braut im Schnee
dann wollte er noch etwas wissen.»
«Er hat euch doch nicht etwa gefragt, wie Andi mit Nachnamen heißt.»
Liebmann grinste. Dann nickte er.
«Gut», sagte Marthaler. «Dann brauchen wir also über Toller nicht mehr zu reden. Wie müssen uns wohl oder übel mit ihm arrangieren.»
Anschließend berichtete er von seinem Besuch im Carolinum und von dem Treffen mit Professor Wagenknecht. Er schilderte, wie er die Adresse von Gabriele Haslers Freundin herausgefunden und versucht hatte, Kontakt zu Stefanie Wolfram aufzunehmen. Er war bemüht, kein Detail auszulassen, denn er wollte, dass alle auf dem gleichen Stand waren. Dann erzählte er von dem Mord an der Frau des Darmstädter Architekten und wie er am Telefon zum Zeugen dieser Tat geworden war. Nach einer Stunde war er mit seinem Bericht fertig.
Sofort begannen die Spekulationen. Sie stellten sich all die Fragen, die Marthaler und Konrad Morell sich gestern nach der Tat auch schon gestellt hatten. Sie arbeiteten lange und mit großer Konzentration. Am Ende kamen sie zu demselben Ergebnis: Auch wenn die beiden Verbrechen auf den ersten Blick so aussahen, als hätten sie nichts miteinander zu tun – in dem einen Fall war eine Frau über Stunden hinweg gequält worden; das andere Mal hatte der Täter sein Opfer kurzerhand erschossen und war sofort wieder verschwunden – es musste sich um denselben Täter handeln wie bei dem Mord an Gabriele Hasler. Alles andere war einfach zu unwahrscheinlich.
Vielleicht war es ein Zufall, dass der Mörder ausgerechnet in dem Moment in das Haus in Kranichstein eingedrungen war, als Marthaler dort angerufen hatte. Aber der Täter musste Informationen über Stefanie Wolfram haben. Er musste von ihrer Freundschaft zu Gabriele Hasler wissen. Und erwollte nicht, dass die Polizei mit Stefanie Wolfram sprach. Dass er in dem Haus eine andere Frau antreffen würde, hatte er nicht ahnen können. Er hatte sich getäuscht, wie Marthaler sich getäuscht hatte.
«Stefanie Wolfram lebt noch», sagte Marthaler, «aber sie ist in großer Gefahr. Wir wissen nicht, wo sie sich aufhält. Sie befindet sich auf einer Reise. Wahrscheinlich irgendwo in Australien oder Neuseeland. Wenn der Mörder von seinem Irrtum erfahren wird, und er hat womöglich schon davon erfahren, wird er versuchen, sie ausfindig zu machen. Er wird versuchen, seinen Fehler zu korrigieren. Das heißt, wir müssen schneller sein. Wir müssen die Freundin Gabriele Haslers finden, bevor er sie findet.»
«Und wie stellst du dir das vor, wenn niemand weiß, wo sie ist?», fragte Sven Liebmann.
«Irgendwer wird es wissen. Vielleicht ihre Eltern. Kein Mensch verschwindet einfach für mehrere Monate. Und wir müssen sichergehen, dass niemand außer uns erfährt, wo sie sich aufhält oder wann sie zurückkommt. Ich schlage vor, dass Kerstin und Kai sich darum kümmern.»
Kerstin Henschel nickte. Sie schaute Marthaler dankbar an. Offenbar war sie froh, nicht im gewohnten Team mit Manfred Petersen arbeiten zu müssen. Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen war, Kerstin hatte Recht gehabt: Es war nicht gut, wenn Marthaler zu viel darüber wusste. Andernfalls hätte er womöglich Partei ergreifen müssen, was der gemeinsamen Arbeit sicher geschadet hätte.
«Ich möchte aber, dass ihr noch hier bleibt. Wir nehmen uns jetzt die Liste vor, die Manfred von der Sitte bekommen hat. Ich denke, da solltet ihr noch dabei sein. Ich mache mir wenig Hoffnungen, dass wir dadurch weiterkommen, dennoch dürfen wir nichts unversucht lassen.»
Manfred Petersen stöpselte einen Stecker in die Rückseiteseines Notebooks, dann stand er auf, um den Beamer einzuschalten. Bevor er ansetzen konnte, etwas zu sagen, wurde die Tür geöffnet.
Vor ihnen stand ein großer Mann, den im ersten Moment niemand erkannte. Dann merkten sie, dass es Raimund Toller war. Keiner der Kollegen hatte ihn bisher ohne Uniform gesehen. Toller trug eine Bomberjacke und eine verspiegelte Sonnenbrille. Er sah aus wie ein Detective aus einer amerikanischen Fernsehserie. Wahrscheinlich war das Absicht. Toller lächelte, aber die Unsicherheit war ihm anzumerken. Sein kräftiger Unterkiefer zuckte vor Anspannung. Marthaler bat ihn, sich einen Stuhl zu suchen und die Brille abzunehmen. «Wir sind es gewohnt, uns in die Augen schauen zu können», sagte er.
Bevor er sich setzte, zog Toller die Jacke aus und hängte sie über den Stuhl. Unter seinem Sweatshirt zeichnete sich die kräftige Muskulatur seines Brustkorbs und seiner
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