Die Braut im Schnee
Archiv mehr als dreißigtausend Negative und eine Kundenkartei mit nahezu fünfhundert Namen und Adressen.
Marthaler schlug mit der Hand auf den Tisch. «Okay, das reicht!», sagte er. «Rollläden hoch, Fenster auf! Ich habe das Gefühl, gleich zu ersticken.» Anstatt zu warten, bis ein anderer es tat, stand er selbst auf, um Licht und Luft in das Sitzungszimmer zu lassen.
Ohne etwas zu sagen, verließ Kai Döring den Raum. Als er eine Minute später die Tür wieder öffnete, war er bereits im Mantel. «Komm, Kerstin», sagte er. «Lass uns gehen. Ich muss hier raus. Ich bin froh, dass wir einen anderen Auftrag haben und uns nicht weiter mit diesem Dreck abgeben müssen.»
«Ich fürchte, das wird euch nicht erspart bleiben», erwiderte Marthaler. «Wenn wir die gesamte Liste abarbeiten wollen, werden wir noch eine Weile zu tun haben.»
«Das heißt, wir müssen alles, was wir eben gehört haben, mit zehn multiplizieren. Erst dann kennen wir die ganze Bandbreite unserer Liste», sagte Kerstin Henschel.
Petersen nickte, ohne Kerstin anzuschauen. «Ja», sagte er, «dem kann ich leider nicht widersprechen.»
Als Henschel und Döring den Raum endgültig verlassen hatten, berieten die anderen das weitere Vorgehen. Sie einigten sich darauf, zwei Teams zu bilden. Liebmann und Petersen würden zusammenarbeiten; Marthaler und Toller bildeten die andere Gruppe. Jedes Team würde im Laufe des Tages fünf der Straftäter überprüfen. Zu den Fällen, die sie jetzt bereitskannten, würden fünf weitere hinzukommen, mit denen sie sich noch vertraut machen mussten. Petersen suchte die Dossiers heraus, die er gemeinsam mit den Kollegen von der Sitte zusammengestellt hatte. Dann verteilten sie die Fälle, ohne auf die Namen der Täter zu schauen.
Der ehemalige Kinderheimleiter Heinz Magenau ging an Marthaler und Toller. Genauso der Fotograf Heinz Drewitz und der Deutschrusse Theodor Lenau. Dazu kamen noch zwei Akten, die sie jeder für sich durcharbeiten mussten, um auf ihren Einsatz vorbereitet zu sein.
«Egal, wie viel wir zu tun haben», sagte Marthaler, «ich habe Hunger. Während wir lesen, können wir genauso gut etwas essen. Ich werden uns etwas besorgen. Und vielleicht ist Elvira so nett, uns einen starken Kaffee zu kochen.»
«Geh zu Harry», sagte Elvira, «ein kleiner Laden in der Rohrbachstraße. Er ist der beste Bäcker weit und breit. Ich wette, du wirst begeistert sein. Und bring mir bitte ein Maisbrötchen mit.»
Er war froh, das Weiße Haus für einen Moment verlassen zu können. Die lange Sitzung hatte ihn angestrengt. Noch immer war der Himmel blau, und die Mittagssonne ließ den Schnee auf den Wegen schmelzen. Endlich hatte er wieder Gelegenheit, für einen Moment an Tereza zu denken. Er freute sich auf sie, und diesmal war seine Freude durch nichts getrübt. Sie hatten sich verabredet, wollten abends zusammen essen gehen und in seiner Wohnung danach vielleicht noch ein Glas Wein trinken. Vielleicht, hatte Tereza gesagt.
Eine Gruppe Kinder kam ihm entgegen. Sie waren auf ihrem Heimweg von der Schule. Alle trugen schwere, bunte Ranzen, unter deren Last ihre Oberkörper hin- und herschaukelten. Zum ersten Mal seit langem dachte Marthaler wieder daran, wie es wäre, selbst ein Kind zu haben. Er fragte sich, wie Tereza darüber dachte. Sie hatten nie darüber gesprochen.
Als er den kleinen Laden wieder verließ, hatte er zwei riesige Tüten mit Gebäck gekauft. Er konnte nicht widerstehen, eine der Tüten zu öffnen. Er wollte nur ein kleines Stück von einem der Maisbrötchen kosten. Als er wieder am Weißen Haus ankam, hatte er es aufgegessen. Elvira hatte Recht gehabt.
SECHZEHN
Toller saß schweigend am Steuer und kniff die Augen zusammen. Die Sonne blendete ihn.
«Sie dürfen Ihre Brille jetzt wieder aufsetzen», sagte Marthaler. «Und Sie dürfen ruhig etwas sagen. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir wohl oder übel miteinander reden.»
«Ja», meinte Toller.
«Ja», erwiderte Marthaler.
Toller schien zu überlegen. «Ich weiß nicht, wie ich Sie anreden soll. Ich bin es nicht gewohnt, unter Kollegen …»
«Nein», unterbrach ihn Marthaler. «Wir duzen uns nicht! Ich bin Ihr Vorgesetzter. Wir bleiben beim Sie!»
Toller nickte. Dann nestelte er an der Innentasche seiner Bomberjacke herum, zog seine Sonnenbrille heraus und setzte sie auf.
Sie waren auf dem Weg ins Westend. Der Mann, den sie aufsuchen wollten, hieß Anton Maria Götz. Er wohnte in der Feldbergstraße, nicht weit
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