Die Braut im Schnee
ausgebaut und gefestigt. Nachzuweisen war ihm seitdem aber nichts mehr. In den Aussagen einer ihm wohlgesinnten Zeugin hieß es, er habe einen ‹etwas brutalen Charme›. Ich denke, man darf ihn mit größerer Berechtigung als gemeingefährlich bezeichnen.»
Manfred Petersen hielt kurz inne. Alle hatten ihm mit großer Aufmerksamkeit zugehört. «Ich hoffe, ich langweile euch nicht», sagte er. «Mitschreiben müsst ihr übrigens nicht. Ich habe zu jedem der Männer ein kleines Dossier angefertigt. Darin findet ihr alles, was ihr bei der Überprüfung wissen müsst.»
Als niemand etwas erwiderte, klickte er das zweite Foto an. Aber jetzt schaltete sich Sven Liebmann ein: «Manfred, wir alle wissen deinen Fleiß zu schätzen. Aber wenn du uns jetzt von jedem deiner dreiundfünfzig Drecksäcke die gesamte Lebensgeschichte erzählen willst, sitzen wir nächste Woche noch hier und schauen uns die Bilder dieser Herren an, anstatt ihnen auf den Zahn zu fühlen.»
Auch Robert Marthaler hatte Angst, dass ihnen die Zeit davonlief.Ein paarmal war er kurz davor gewesen, Petersen zu unterbrechen. Dann hatte er sich anders entschieden.
«Nein», sagte er jetzt, «lasst uns weitermachen. Wir können nicht alle Geschichten hören, aber wenigstens ein paar. Ich möchte, dass wir wissen, mit was für Leuten wir es hier zu tun haben, in welchem Milieu wir uns bewegen. Es hat keinen Zweck, wenn wir unvorbereitet in die Sache stolpern. Vielleicht hat keiner dieser dreiundfünfzig Männer etwas mit dem Mord an Gabriele Hasler zu tun. Trotzdem werden wir etwas darüber erfahren, was in solchen Menschen vorgeht. Wenn wir uns dem Täter nicht von außen nähern können, dann müssen wir uns ihm zunächst von innen nähern.»
Die anderen nickten, und Manfred Petersen setzte seinen Vortrag fort.
Die nächste Aufnahme zeigte einen etwa sechzigjährigen Mann mit weichen Gesichtszügen. Er hatte lichtes Haar und auffällig kleine Augen. Als der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hatte, waren die Lippen des Straftäters zusammengepresst und das Kinn nach vorne gereckt. Es sah aus, als wolle der Mann zeigen, dass er sich nichts vorzuwerfen habe, dass man ihm unrecht tue. Er hieß Heinz Magenau und stammte aus Stuttgart. Er war Mitglied einer Gruppe, die sich «Gemeinschaft für ökoethisches Leben» nannte und die er selbst gegründet hatte. Die Gruppe war als gemeinnütziger Verein anerkannt gewesen und mit öffentlichen Geldern gefördert worden. Heinz Magenau war zunächst Pfleger in einer Kinderklinik gewesen, hatte auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur nachgeholt und später Soziologie und Pädagogik studiert. Anfang der achtziger Jahre hatte er in einem einsamen Tal im Spessart ein verfallenes Gut gekauft und dort ein Heim für schwer erziehbare Kinder eingerichtet, dem ein Bauernhof mit umfangreicher Tierhaltung angegliedert war. Es gab finanzielle Unregelmäßigkeiten und erste Gerüchteüber sexuellen Missbrauch; das Heim wurde geschlossen, dem Verein seine Gemeinnützigkeit aberkannt. Heinz Magenau war inzwischen verheiratet und hatte drei Söhne und vier Töchter. Die Familie zog nach Frankfurt um, wo er wiederum Anstellung in einem Heim für Kinder und Jugendliche fand. Als eine der Insassinnen volljährig wurde und das Heim verließ, zeigte sie Magenau wegen fortgesetzten Missbrauchs an. Was in dem anschließenden Verfahren ans Tageslicht kam, überstieg die Vorstellungskraft der meisten Prozessteilnehmer.
«Niemand von uns mag dieses Wort», sagte Manfred Petersen, «aber Heinz Magenau ist ein sexuelles Monster. Ihm wurde Missbrauch in neuntausendvierhundertdreiundzwanzig Fällen nachgewiesen. Er hat alle sexuellen Praktiken ausgeübt, von denen man je gehört hat. Er hatte Oral- und Analverkehr sowohl mit den Jugendlichen als auch mit den ihm anvertrauten Kindern. Mit Mädchen und Jungen gleichermaßen. Er hat seine Frau geschlagen und sich von ihr schlagen lassen. Er ist regelmäßig zu Prostituierten gegangen, die bereit waren, sich von ihm quälen zu lassen. Er hatte mit all seinen sieben Kindern immer wieder Geschlechtsverkehr. Und er hat es sogar mit den Tieren auf dem Bauernhof getrieben. Leider waren zum Zeitpunkt des Prozesses viele der Taten bereits verjährt. Magenau kam ins Gefängnis und wurde psychiatrisch behandelt. Inzwischen ist er wieder frei und gilt als geheilt. Er wohnt noch immer mit seiner Frau, die ihn im Prozess schwer belastet hat, in einem ziemlich heruntergekommenen Haus im Frankfurter Norden.
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