Die Braut im Schnee
der Sonne des Nachmittags leuchten. Kurz nachdem sie die Stadtgrenze von Offenbach passiert hatten, bogen sie in Richtung Main ab, den sie auf der Carl-Ulrich-Brücke ein zweites Mal überquerten.
«Was ist das?», fragte Marthaler. Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und schnupperte.
«Was meinen Sie?», fragte Toller.
«Es riecht nach Brot. Nach Brot, das frisch gebacken und gerade aus dem Ofen gezogen wurde.»
«Kein Wunder», sagte Toller. «Hier hinten gibt es zwei Großbäckereien, die das halbe Rhein-Main-Gebiet beliefern.»
Fechenheim war eines jener äußeren Stadtviertel, die zwar zu Frankfurt gehörten, die aber wirkten, als seien sie ein wenig in Vergessenheit geraten. Die Wohnungen waren hier billiger, und die meisten Mietshäuser sahen ärmlich aus. Viele, die in diesem Teil der Stadt lebten, kamen nur von Zeit zu Zeit in die City – als Besucher aus einer anderen Welt. Der alte Ortskern war inzwischen umzingelt von Industriehallen, Speditionen, Auslieferungslagern und riesigen Fleischerbetrieben. Dennoch gab es zwischen alldem auch immer wieder Brachen, sumpfige Wiesen, kleine Wäldchen und verkrautete Gärten, die Marthaler an seine Kindheit erinnerten. So ähnlich waren die Plätze in Nordhessen gewesen, die er und seine Freunde am liebsten aufgesucht hatten. Dorthin waren sie aus ihrer Siedlung geflohen, und dort hatten sie kleine Unterstände gebaut, hatten heimlich geraucht und oft stundenlang ihren Ritterträumen nachgehangen. Vielleicht lag es daran, dass er sich in genau diesen Stadtteilen Frankfurts eher zu Hause fühlte als in den herausgeputzten inneren Bezirken.
Zum dritten Mal fuhr Raimund Toller die Dieburger Straße entlang, aber noch immer hatten sie Theodor Lenaus Hausnummer nicht entdeckt. Schließlich ließen sie den Wagen vor einer Gaststätte stehen und machten sich zu Fuß auf die Suche. Endlich merkten sie, dass die Nummer nicht zu einem Haus, sondern zu einer Kleingartensiedlung gehörte.Die meisten Hütten waren aus Holz zusammengezimmert und waren gerade mal groß genug, um ein paar Geräte unterzustellen. Endlich entdeckten sie ein gemauertes Häuschen, dessen Dach mit Ziegeln gedeckt war. Aus dem Schornstein kam Rauch.
«Ist es nicht verboten, in solchen Gartenhäusern zu wohnen?», fragte Toller.
Marthaler zuckte die Achseln: «Seit wann wäre das denn ein Grund», sagte er. Er selbst hatte zu Beginn seines Studiums für einige Sommermonate in einer solchen Hütte gewohnt, war dann aber, als es im Herbst langsam kühler wurde, doch froh gewesen, ein Zimmer zu finden.
Das eiserne Gartentor quietschte, als Toller es öffnete. Sie näherten sich dem kleinen Haus über einen Plattenweg. Hinter dem Fenster neben der Eingangstür bewegte sich die Scheibengardine. Unwillkürlich fühlte Marthaler, ob er seine Dienstwaffe dabeihatte. Bevor sie anklopfen konnten, wurde ihnen geöffnet. Vor ihnen stand eine stämmige Frau mit einem breiten Gesicht.
«Wir möchten mit Theodor Lenau sprechen.»
Von innen hörten sie eine Männerstimme. Was der Mann sagte, konnten sie nicht verstehen. Er sprach Russisch. Die Frau antwortete ihm in derselben Sprache, dann bat sie die beiden Polizisten mit einer Handbewegung herein. Sie passten kaum zu dritt in den engen Vorraum. Marthaler betrat als Erster das niedrige Zimmer. Anscheinend diente es zugleich als Küche und Wohnraum. Es gab einen alten Holzherd, eine winzige Spüle, einen Tisch, zwei Stühle und ein Sofa. Über der Spüle stand auf einem Regal ein Fernseher, der zwar lief, dessen Ton aber leise gestellt war. In einem Sessel am Fenster saß ein Mann. Obwohl er sehr viel älter wirkte als auf dem Foto, das Manfred Petersen ihnen am Morgen gezeigt hatte, erkannte Marthaler den Automechaniker Theodor Lenau. Essah nicht so aus, als wolle Lenau aufstehen, um seine Besucher zu begrüßen. Über seinem Schoß lag eine Wolldecke, die bis auf den Boden reichte. Seine rechte Hand lag reglos auf der Decke, mit der linken fingerte er eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an.
«Polizei?», fragte er.
Marthaler nickte. Er machte sich nicht die Mühe, seinen Ausweis zu zeigen. Es verunsicherte ihn, dass er nicht wusste, was sich unter der Decke auf Lenaus Schoß befand. «Ist das Ihre Frau?»
Auf dem Gesicht des Deutschrussen zeigte sich ein Lächeln. «Ja», sagte er. «Das hätten Sie wohl nicht gedacht, dass einer wie ich eine findet, die bereit ist, ihn zu heiraten.»
«Mich wundert gar nichts», sagte
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