Die Braut im Schnee
vom Palmengarten entfernt. In seiner Akte stand, dass er aus einer kleinen Gemeinde in der Nähe des Starnberger Sees kam. Er war ausgebildeter Psychotherapeut und hatte bis Anfang der neunziger Jahre in einer großen Münchner Privatklinik gearbeitet. Dort war er entlassen worden, weil sich mehrere Patientinnen über ihn beschwert hatten. Zu einem Verfahren war es damals nicht gekommen. Götz war nach Düsseldorf gezogen, wo er eine eigene Praxis eröffnet hatte, in der er vor allem suchtkranke und suizidgefährdete Patienten betreute. Eine Frau hatte ihn angezeigt, weil er versucht hatte, sie während der Behandlungzu vergewaltigen. Als der Fall öffentlich wurde, gaben acht weitere Patientinnen an, dass er ihre seelische Labilität ausgenutzt habe, um sie von sich abhängig zu machen und auf unterschiedlichste Art sexuell zu missbrauchen. Er war zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Seit Ende 1999 war er in Frankfurt gemeldet.
Als sie die Adresse gefunden hatten, suchten sie einen Parkplatz. Sie mussten zweimal um den Block fahren und stellten den Wagen schließlich ins Halteverbot.
«Nicht schlecht», sagte Toller, als sie sich dem alten vierstöckigen Haus näherten. «Jedenfalls darf man nicht arm sein, wenn man sich hier eine Wohnung leisten will.»
Neben dem Hauseingang war ein weißes Schild befestigt: «Dr. Anton Maria Götz» stand darauf. «Ganzheitliche Therapien für Körper, Geist und Seele».
«Na prima», sagte Marthaler, «das ist ja, als würde sich der Teufel selber heilig sprechen.»
Die Haustür stand offen. Sie stiegen die breite Steintreppe hinauf bis zum zweiten Stock. Als Marthaler auf den Klingelknopf drückte, ertönte fast im selben Moment der Türöffner. Sie betraten die Praxis und standen einer blonden Frau gegenüber, die sie mit hochgezogenen Brauen anschaute.
«Ja, bitte? Sie wünschen?»
Sie sprach leise. Trotzdem war die Schärfe in ihrem Ton nicht zu überhören. Ihre Frage klang zugleich erstaunt und verärgert.
«Vielleicht wollen wir uns ja ganzheitlich behandeln lassen. Warum wundert Sie das?», fragte Marthaler.
Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. «Nein», sagte sie, «wir nehmen keine Patienten an.»
«Was heißt das, Sie nehmen keine Patienten an? Heute nicht? Oder nie?»
«Zu uns kommen nur Frauen.»
Marthaler schaute Toller an, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. «Es kommen nur Frauen? Oder nimmt der Herr Doktor nur Frauen?»
«Ich darf Sie bitten, die Praxis jetzt wieder zu verlassen.»
Marthaler lauschte. Hinter einer der geschlossenen Türen hörte er leise Musik. Er meinte, den Klang einer Sitar zu erkennen. «Sie dürfen uns bitten, aber wir werden Ihrer Bitte nicht folgen», sagte er. «Wir müssen mit Herrn Götz sprechen.»
«Das geht nicht», sagte sie. Und jetzt wirkte sie fast ein wenig ängstlich. «Doktor Götz hat gerade eine Behandlung begonnen. Bitte gehen Sie.»
Mit dem Kopf gab Marthaler seinem Kollegen ein Zeichen, ihm zu folgen. Der Boden des langen Flurs war mit einem dicken, cremefarbenen Teppich bedeckt. Bevor die Frau reagieren konnte, hatte Marthaler bereits den Raum erreicht, in dem er die Musik vermutete. Ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür.
Er sah in ein großes, helles Zimmer mit hohen Decken. Der Raum war fast leer. An den weiß gestrichenen Wänden hingen große Bilder mit asiatischen Symbolen. Auf dem Boden lag der gleiche Teppich wie im Flur. In der Mitte des Zimmers saß eine junge, unbekleidete Frau auf einem Stuhl. Sie hatte die Augen geschlossen und lächelte. Hinter ihr stand ein Mann mit langem, silberfarbenem Haar. Er war barfuß und trug ein weites Gewand, das ihm bis zu den Waden reichte. Seine Fingerspitzen lagen an den Schläfen der Frau.
Als der Mann seinen ersten Schrecken überwunden hatte, begann er zu schreien: «Was fällt Ihnen ein? Was haben Sie hier zu suchen? Verlassen Sie sofort meine Praxis!»
Die junge Frau zuckte zusammen und versuchte, ihre Blöße zu bedecken.
Marthaler klappte seine Brieftasche auf und zeigte seinen Ausweis. «Wir müssen mit Ihnen sprechen, Dr. Götz. Jetzt! Sofort!» Dann wandte er sich an Toller: «Die Frau soll sich anziehen. Nehmen Sie ihre Personalien auf. Wir brauchen ihre Aussage. Wenn sie hier nicht sprechen mag, werden wir ihr eine Vorladung schicken oder sie zu Hause aufsuchen.»
Als Anton Maria Götz den Polizeiausweis sah, brach sein Widerstand zusammen. Hinter seinen forschen Bewegungen trat offene
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