Die Braut im Schnee
Marthaler. «Ich frage mich nur, ob es Ihnen recht ist, wenn Ihre Frau mitbekommt, was wir mit Ihnen zu besprechen haben.»
«Oh, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Olga versteht kaum ein Wort Deutsch. Außerdem weiß sie, mit wem sie verheiratet ist.»
Marthaler nickte. Er wollte nicht mit Lenau über seine Ehe sprechen. «Sie haben von dem Mord in Oberrad gelesen?»
Unter seinen dichten Brauen begannen Lenaus Augen zu flattern. Mit seiner linken Hand, die auf dem Tisch lag, knüllte er die leere Zigarettenschachtel zusammen.
«Ich lese keine Zeitung», sagte er.
«Aber Sie sehen fern. Haben Sie davon gehört, was passiert ist, oder nicht?»
«Ja.»
Marthaler hatte den Eindruck, dass sich Lenau aus unerfindlichen Gründen über ihn amüsierte.
«Dann können Sie sich vielleicht denken, was wir von Ihnen wollen.»
«Sie wollen wissen, wo ich war, als die Frau umgebracht wurde. Stimmt’s?»
«Stimmt», sagte Marthaler.
Lenaus Grinsen wurde breiter. «Ich war zu Hause.»
«Wir haben Ihnen aber noch gar nicht gesagt, wann der Mord geschehen ist.»
«Ich bin immer zu Hause», sagte Theodor Lenau. Dann hob er seine linke Hand und nahm ein neues Päckchen Zigaretten von der Fensterbank.
«Natürlich», sagte Marthaler. «Und Ihre Frau würde das sicher auch bestätigen.»
Lenau nickte. Und Lenau grinste.
«Gibt es sonst noch jemanden, der das bestätigen würde?», fragte Marthaler.
Plötzlich machte der Mann eine rasche Bewegung. Mit einem Ruck zog er die Decke auf seinem Schoß beiseite und warf sie in Richtung der beiden Polizisten, wo sie auf den Boden fiel. Toller und Marthaler hatten im selben Moment ihre Pistolen gezogen.
Dann sahen sie es.
Theodor Lenau hatte keine Beine mehr. Die Wolldecke hatte nichts anderes als zwei Plastikprothesen bedeckt.
«Das ist alles, was von mir übrig ist», sagte er. Das Grinsen war jetzt aus seinem Gesicht verschwunden. Sein rechter Arm hing reglos an der Seite des Sessels herab. Und erst jetzt erkannte Marthaler, dass das, was aus dem Ärmel des Pullovers hervorragte, eine Kunststoffhand war. Lenau hatte beide Beine und einen Arm verloren.
Marthaler wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er ließ die Pistole sinken, dann steckte er sie umständlich wieder ein.
«Ich nehme an, Sie hatten einen Unfall», sagte er und merkte im selben Augenblick, wie unsinnig dieser Satz war.
Lenau lachte. «Es geht Sie nichts an, was ich hatte odernicht hatte», sagte er. «Und es interessiert Sie auch überhaupt nicht. Außer Olga gibt es keinen Menschen, der sich je für mich interessiert hätte.»
Der Mann hatte Recht. Es interessierte Marthaler nicht. Trotz des erbarmungswürdigen Anblicks, der sich ihnen bot, war er nicht in der Lage, Mitleid für Lenau aufzubringen. Nicht nach dem, was er am Vormittag über ihn erfahren hatte.
Theodor Lenaus Kopf war auf seine Brust gesunken. «Gehen Sie, bitte!», sagte er leise.
Einen Moment lang standen die beiden Polizisten noch ratlos in dem kleinen Raum.
Dann wurde Lenau laut. «Gehen Sie!», schrie er und schlug mit seiner Plastikhand auf die Armlehne des Sessels. «Gehen Sie endlich! Gehen Sie und lassen Sie uns in Ruhe!»
Daniel Hildesheimer war Mitte der neunziger Jahre zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt worden, nachdem er zwei Anhalterinnen in seinem Wohnmobil mitgenommen, sie dort fast eine Woche eingesperrt und immer wieder zu sexuellen Handlungen gezwungen hatte. Während er mit den beiden jungen Frauen durch halb Süddeutschland gefahren war, hatte er ihnen tagelang nichts zu essen gegeben. An einer Ampel war es den Freundinnen schließlich gelungen, die Besatzung eines zufällig vorbeikommenden Streifenwagens auf sich aufmerksam zu machen. Die Polizisten folgten dem Camper, zwangen ihn zum Anhalten und befreiten die beiden Opfer. Hildesheimer, der zu jener Zeit als Leichtathletik-Trainer für einen großen Frankfurter Sportverein arbeitete, gelang zu Fuß die Flucht. Vier Tage später wurde er verhaftet, als er den Versuch unternahm, vom Parkplatz einer Gaststätte ein Wohnmobil zu stehlen, dessen Besitzer gerade zu Mittag aßen.
In seiner Akte stand, dass Hildesheimer im Haus seinerMutter im Röderbergweg gemeldet sei, wo er im Kellergeschoss eine kleine Wohnung habe. Es hieß jedoch auch, dass er sich dort nur aufhalte, wenn er keine Gelegenheit habe, bei einer seiner häufig wechselnden Freundinnen unterzukommen. Die Kellerwohnung vermiete er, sooft es gehe, an Messebesucher.
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