Die Braut im Schnee
Nervosität zutage. Er bat Marthaler, ihm in sein Büro zu folgen. Dort bot er ihm einen Stuhl an und setzte sich selbst hinter seinen Schreibtisch.
«Vielen Dank», sagte Marthaler. «Aber ich mache es mir ungern gemütlich, wenn ich mit einem Verdächtigen spreche.»
«Wessen bin ich verdächtigt?»
«Was geht in diesen Räumen vor? Was haben Sie mit dieser Frau gemacht?»
«Nichts, was sie nicht gewollt hätte.»
«Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie das auch während Ihres Prozesses gesagt. Allerdings haben Ihre Patientinnen das ganz anders gesehen. Warum war die Frau nackt?»
«Weil sie es wünschte.»
«Das bezweifle ich. Aber wir werden sie befragen.»
Götz lehnte sich in seinem Sessel zurück. «Tun Sie das», sagte er. «Ich bitte darum.»
Offensichtlich hatte er einen Teil seiner Selbstsicherheit wiedergewonnen. «Hören Sie», fuhr er fort, «ich bin kein Arzt mehr. Mein Betrieb ist angemeldet, ich zahle ordnungsgemäß meine Steuern. Ich habe dazugelernt. Ich lasse mir von jeder Frau, die zu mir kommt, eine Erklärung unterschreiben, dass sie mit meinen Behandlungsmethoden einverstanden ist. Dazu zählt auch der intensive körperliche Kontakt.»
«Das heißt, Sie haben Ihre Sauereien legalisiert. Sie führenjetzt einen luxuriösen Saustall mit behördlicher Genehmigung.»
Götz schaute Marthaler an. Um seine Lippen spielte ein kleines Grinsen. «Nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber behelligen Sie mich nicht mit Ihrer Beamtenmoral. Weisen Sie mir etwas nach, wenn Sie können. Wenn nicht, lassen Sie mich in Frieden.»
«Wo waren Sie am 11. November zwischen 19.00 und 24.00 Uhr?»
«Wahrscheinlich hier. Ich schaue nach.» Götz blätterte in seinem Tischkalender. Dann nickte er. «Es ist, wie ich sage. Ich hatte am Abend eine dreistündige Sitzung. Meine Mitarbeiterin gibt Ihnen Namen und Adresse der Dame. Warum fragen Sie?»
«Ich frage, weil ich frage. Ich frage, weil ich Polizist bin und das Recht habe, Ihnen jede Frage zu stellen.» Robert Marthaler drehte sich um und verließ das Büro.
«Wo waren Sie? Wie wollen Sie etwas lernen, wenn Sie bei der Vernehmung nicht dabei sind?», fragte Marthaler, als sie wieder auf der Straße waren und zum Dienstwagen zurückgingen.
Toller duckte sich unter dem Tadel seines Vorgesetzten. «Ich habe gewartet, bis die Frau sich angezogen hatte, anschließend habe ich ihre Personalien aufgenommen. Dann wusste ich nicht, ob ich zu Ihnen reinkommen soll oder nicht. Sie sagt übrigens, dass ihr die Behandlungen von Dr. Götz gut tun. Alles geschieht mit ihrem Einverständnis. Ich habe sie gefragt.»
Marthaler war stehen geblieben. Einen Augenblick lang war er sprachlos. Dann herrschte er Toller an: «Was fällt Ihnen ein? Wie kommen Sie dazu, eigenmächtig eine Zeugin zu befragen. Ihnen ist hoffentlich klar, was Sie damit angerichtet haben.»
Aber Toller war gar nichts klar. Er stotterte eine Entschuldigungund schaute zu Boden. Dann wollte er wissen, worin sein Fehler bestanden habe.
«Wir wissen nichts über diese Frau. Wir wissen nicht, wie weit sie von Götz schon beeinflusst wurde. Wir haben sie überrascht, als sie nackt auf einem Stuhl in einer fremden Wohnung saß. Und dann fallen Sie mit der Tür ins Haus. Was hätte sie denn sagen sollen? Jetzt hat sie Götz bereits mit ihrer ersten Aussage entlastet. Warum sollte sie diese Aussage zurücknehmen? Sie stünde als Lügnerin da. Toller, ich rate Ihnen: Halten Sie sich zurück! Sie haben keine Ahnung, wie man eine Zeugenbefragung durchführt, also lassen Sie es! Lassen Sie es so lange, bis Sie es gelernt haben. Und ich fürchte, das dürfte noch eine ganze Weile dauern.»
Als sie wieder zu ihrem Auto kamen, sah Marthaler, dass unter dem Scheibenwischer ein Strafzettel steckte. Wütend zog er ihn von der Windschutzscheibe und stopfte ihn in seine Manteltasche.
«Nächste Station, nächster Dreckskerl», sagte er. «Wir fahren nach Fechenheim. In die Dieburger Straße. Dort wohnt der Automechaniker Theodor Lenau. Am besten nehmen wir den Weg über die Hanauer und dann durchs Industriegebiet.»
«Ich denke», sagte Raimund Toller vorsichtig, «um diese Zeit wäre es besser, über Offenbach zu fahren.»
Marthaler war erstaunt über den Widerspruch. «Gut», sagte er, «dann machen wir das.»
Obwohl der Feierabendverkehr noch nicht eingesetzt hatte, kamen sie nur langsam voran. Von der Kaiserleibrücke hatte man einen guten Blick über Frankfurt. Marthaler sah den Henninger-Turm in
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