Die Braut im Schnee
den Streichhölzern auf. Als er die Aufschrift las, stutzte er kurz. «Hotel-Pension Uhland» stand darauf. Es war weniger der Name als vielmehr der Schriftzug, der ihn glauben ließ, ein solches Briefchen schon einmal gesehen zu haben. Dann fiel es ihm ein. Es waren die gleichen Streichhölzer, wie er sie im Nachttisch von Gabriele Hasler gefunden hatte. Marthaler nahm die Zeitschrift und ging damit zur Rezeption. Er zeigte der Frau das Foto: «Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?», fragte er. «War sie einmal Gast bei Ihnen?»
«Die tote Zahnärztin? Nein, nicht dass ich mich erinnern könnte. Warum fragen Sie?»
«Nur so», sagte Marthaler. «Es hätte sein können.»
Tereza kam die Treppe herunter. Sie winkte der Pensionsbesitzerin zu und rief: «Guckst du schnell weg, Frau Wirtin.» Die Frau lachte und hielt sich eine Hand vor die Augen. Tereza gab Marthaler rasch einen Kuss auf den Mund.
«Weißt du, dass es nicht sehr anständig klingt, wenn man jemanden ‹Frau Wirtin› nennt», sagte er, als sie auf der Straße standen und sie sich bei ihm untergehakt hatte.
«Oh», erwiderte Tereza, «das wusste ich nicht. Aber es ist auch keine sehr anständige Haus. Es gibt da Geräusche manchmal in die Zimmer, ich sage dir …»
«Dann darfst du dort nicht länger wohnen», sagte er halb im Spaß. «Dann wird ein Ritter kommen und dich aus dieser liederlichen Absteige befreien.»
Sie kniff ihn in die Seite: «Ein Ritter? Du meinst doch nicht etwa meine dicke Honigpferd?»
Keine zehn Minuten später hatten sie das Restaurant erreicht. Im Eingang herrschte Gedränge. Aus dem Innerenhörte man laute Stimmen und Musik. Marthaler hatte den Eindruck, dass mehr Spanisch als Deutsch gesprochen wurde. Sabato begrüßte die beiden Neuankömmlinge. Er umarmte Tereza und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und schaute ihn dankbar an. Dann stellte er ihnen seinen Schwager vor.
Miguel sah aus, wie sich Marthaler Don Quichotte immer vorgestellt hatte. Er überragte selbst Sabato um fast einen halben Kopf, war aber sicher fünfzig Kilo leichter. Tereza konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Sie stand vor ihm und schaute ihn mit großen Augen an: «Largo como un día sin pan», sagte sie. Alle, die um sie herumstanden, lachten. Nur Marthaler wusste nicht, was der Satz bedeuten sollte.
«Man sagt so in Spanien über eine große Mann: Er ist so lang wie ein Tag ohne Brot.»
Marthaler gefiel es, mit welcher Unbeschwertheit sie sich inmitten dieser Leute bewegte, die ihr alle fremd waren. Nach fünf Minuten hatte sie sich bereits von seiner Seite gelöst und plauderte mit zwei jungen Frauen, die sie eben erst kennen gelernt hatte. Die Stimmung hier war so ausgelassen und fröhlich, wie Marthaler es lange nicht erlebt hatte. Irgendwas ist anders an diesen Menschen, dachte er. Vielleicht fehlt uns Deutschen etwas. Vielleicht ist es ein Gen, vielleicht ist es auch nur die Sonne.
Er schaute sich um, aber mit Ausnahme von Carlos und Elena kannte er niemanden. «Außer mir hast du keine Kollegen eingeladen?», fragte er Sabato. Der sah ihn an, als habe er seine Frage auf Chinesisch gestellt. «Nein», erwiderte er, «ich glaube, das wäre auch keine gute Idee gewesen.»
Marthaler schaute ihn fragend an.
«Ja, weißt du denn nicht, dass hier fast nur Linke versammelt sind. Kommunisten, Sozialisten, sogar ein oder zwei Anarchisten. Der ganze Saal ist voller Staatsfeinde. Nun stell dirhier mal unseren Chef vor. Der würde doch gleich den Verfassungsschutz rufen.»
Als er Marthalers ungläubigen Gesichtsausdruck sah, brach Sabato in ein dröhnendes Lachen aus. «Keine Angst», sagte er. «Das Essen ist nicht vergiftet. Komm, und jetzt setzen wir uns. Ich habe einen Bärenhunger.»
Sabato hatte nicht übertrieben. Miguels Fischpaella war ein Gedicht, und Tereza, die stattdessen ein halbes Kaninchen mit Sherry und Mandeln gegessen hatte, schaute Marthaler an, als habe sie schon lange keinen so glücklichen Abend erlebt. Plötzlich sprang sie auf und lief zur Garderobe. Als sie zurückkam, überreichte sie Marthaler ein kleines, in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen.
«Habe ich immer wieder vergessen, dir zu geben», sagte sie. Als er es auswickelte, sah er, dass es die Musik zu Pedro Almodóvars «Sprich mit ihr» war. Sie hatten den Film zusammen in Madrid gesehen, und obwohl er fast nichts von den Dialogen verstanden hatte, war Marthaler tief gerührt gewesen von der Geschichte eines jungen Krankenpflegers, der
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