Die Braut im Schnee
Tatsächlich hatte man das Foto veröffentlicht, auf dem er angeblich versuchte, den Chefreporter Arne Grüter zu schlagen. Die Bezeichnung «Prügel-Bulle», die Marthaler in seiner Wut aufgebracht hatte, war abgemildert worden zu dem Wort «Prügel-Polizist». Einige Blätter hatten noch einmal versucht, den Fall groß herauszubringen, dann war es auch in den Medien ruhiger geworden.
Einmal erhielt Marthaler einen Anruf von Manfred Petersen, der ihm mitteilte, dass die weiteren Überprüfungen der verurteilten Sexualstraftäter zu keinem Ergebnis geführt hatten. Die meisten konnten ein Alibi für die Tatnacht nachweisen. Bei anderen zeigte sich, dass die Polizeiakten nichtauf dem neuesten Stand waren: Manche der Männer waren tot oder wohnten schon lange im Ausland. Luigi Pavese, genannt «der schöne Lutz», hatte sich weitab jeder anderen Behausung ein kleines, ehemaliges Weingut im Piemont gekauft. Mit dem Gesetz war er laut Angaben der italienischen Polizei nicht mehr in Konflikt geraten. Marko Anschütz galt noch immer als einer der Großen im Milieu des Frankfurter Bahnhofsviertels, tarnte seine Geschäfte aber so erfolgreich, dass es zu einer neuerlichen Anklage niemals gereicht hatte. Heinz Magenau, der ehemalige Betreiber eines Heimes für schwer erziehbare Jugendliche, das Sexmonster, wie Manfred Petersen ihn genannt hatte, betrieb tatsächlich seinen Kiosk in der Nähe einer Schule. In den Stunden, als Gabriele Hasler in ihrem Haus ermordet worden war, hatte er angeblich einen gemütlichen Abend im Kreise seiner Familie verbracht.
Hans-Jürgen Herrmann hatte schließlich alle Aktivitäten auf die Suche nach Helmut Drewitz gelenkt. Doch von dem Fotografen fehlte weiterhin jede Spur. Man hatte all seine näheren und weitläufigen Verwandten befragt, aber niemand wusste etwas über seinen Aufenthaltsort. Einmal meldete sich eine deutsche Urlauberin, die behauptete, ihn in einem Hotel auf Lanzarote gesehen zu haben. Doch auch dieser Hinweis erwies sich als falsch.
Tatsächlich hatten die Computerexperten auf der Festplatte, die bei der Explosion im Osthafen unbeschädigt geblieben war, eine riesige Anzahl verbotener pornographischer Abbildungen gefunden. Es stellte sich heraus, dass Drewitz mit den Passwörtern, die den Zugang zu diesem Material erlaubten, einen weltweiten Handel betrieb. Wenn er jemals gefasst wurde, würde man ihn wenigstens dafür belangen können.
An einem Abend in der dritten Novemberwoche fand die Eröffnung des Restaurants «La Passionaria» statt. Marthalerhatte den Kriminaltechniker Carlos Sabato gefragt, ob er trotz seiner anfänglichen Ablehnung kommen und ob er darüber hinaus noch jemanden mitbringen dürfe. Sabato hatte ihm seine schwere Hand auf die Schulter gelegt und gegrinst: «Dann hast du die Sache mit Tereza also wieder in Ordnung gebracht. Alter, du glaubst nicht, wie mich das freut. Andernfalls hätte ich dich aber auch zum Duell gefordert. Und damit das eine klar ist: Die Diät wird an diesem Abend unterbrochen.»
Es regnete, als Marthaler vor dem Eingang der kleinen Pension in der Leipziger Straße stand, in der Tereza sich eingemietet hatte. Bisher hatten sie sich immer bei ihm getroffen; jetzt hatten sie sich hier verabredet, weil das Restaurant von Sabatos Schwager ganz in der Nähe lag. Marthaler sah zum ersten Mal, wo Tereza Unterschlupf gefunden hatte.
Die Besitzerin bat ihn herein. «Sie müssen nicht im Regen stehen bleiben. Sie können gerne zu ihr hochgehen. Schließlich seid ihr beide erwachsen, und dies ist kein Mädchenpensionat», sagte sie.
«Nein», erwiderte Marthaler, «Tereza wird gleich kommen. Sie mag es nicht, wenn man sie stört, solange sie vor dem Spiegel steht.»
Er setzte sich auf das zerschlissene Sofa, das zu einer Sitzgruppe in dem engen Eingangsbereich gehörte. Aus den kleinen Lautsprechern, die hinter Blumentöpfen versteckt waren, kam ein Lied von Edith Piaf. Auf dem Tischchen vor ihm lag eine aufgeschlagene Zeitschrift, darin war ein Foto von Gabriele Hasler und eine Reportage über den Mord in Oberrad. Marthaler fragte, ob er rauchen dürfe. Die Frau hinter dem Tresen blickte auf und lächelte ihm zu. «Wir sind auch kein Krankenhaus. Der Aschenbecher steht vor Ihnen.»
Als er sich eine seiner Mentholzigaretten anstecken wollte, merkte er, dass er sein Feuerzeug vergessen hatte. Bevor erdie Wirtin bitten konnte, hörte er bereits ihre Stimme: «Hier, fangen Sie …»
Mit der linken Hand fing er das Briefchen mit
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