Die Braut im Schnee
sich in eine Koma-Patientin verliebt. Und von der Musik, die ihm lange nicht aus dem Kopf gegangen war.
Auf einmal nahm ihm Tereza die CD wieder aus der Hand, lief damit zur Theke und verhandelte kurz mit dem Kellner. Kurz darauf erklangen die ersten Takte jenes unendlich traurigen und schönen Walzers, der damals in Madrid in vielen Bars zu hören gewesen war. Tereza stand jetzt hinter ihm, tippte ihm auf die Schulter und bat ihn, mit ihr zu tanzen. Und obwohl er sich ein wenig genierte, wusste er, dass er ihr diesen Wunsch nicht abschlagen durfte. Sogleich kamen andere Paare hinzu, und binnen einer halben Minute war der Raum zwischen Tresen und Tischen voll. Marthaler sah, wie die Musik sich in den Gesichtern der Tanzenden auf merkwürdige Weise spiegelte. Alle schienen für ein paar Momentevon derselben Schwermut ergriffen zu sein, und alle hatten zugleich das Bedürfnis, miteinander zu lachen.
Es wurde noch lange getanzt und viel getrunken an diesem Abend. Und Miguel tischte immer neue Kleinigkeiten auf. Mal rollte er einen Servierwagen mit Käse herein, dann brachte er katalanische Creme und später Kuchen, Plätzchen und Kaffee. Seine Verwandten und Freunde erzählten Geschichten aus ihren Dörfern und Vierteln. Und Marthaler wunderte sich, mit welch großer Selbstverständlichkeit und Leidenschaft unter den Spaniern über Politik diskutiert wurde. Auf den Feiern in seiner eigenen Familie war dergleichen verpönt gewesen. Dort hatte man jede auch noch so kleine Meinungsverschiedenheit vermieden. Und Marthaler war nie den Verdacht ganz losgeworden, dass man deshalb so ängstlich auf eine oberflächliche Harmonie bedacht gewesen war, weil sonst deutlich geworden wäre, dass man eigentlich nichts miteinander zu tun hatte.
Als sie gegen Ende des Abends für einen Moment allein an der Theke standen, fragte Marthaler Sabato, wie es Manon gehe. Er kannte die erwachsene Pflegetochter von Elena und Carlos ebenso lange wie die beiden selbst, hatte sie aber nach ihrem Klinikaufenthalt nur noch selten gesehen. Sogleich bereute er seine Frage. Er sah, wie sich ein Schatten über Sabatos Züge legte. Und es dauerte eine Weile, bis dieser endlich antwortete: «Frag mich nicht», sagte er. «Nicht heute Abend, bitte! Lass uns lieber noch einen letzten Veterano trinken, ja.»
Sie waren nach jenem Abend im Restaurant «La Passionaria» zusammen in Terezas Pension gegangen und hatten die Nacht in einem zu engen Bett verbracht. Als sie am nächsten Vormittag am Frühstückstisch saßen, brachte die Wirtin ihnen Kaffee, Rühreier und Orangensaft. Und wieder kamen aus den Lautsprechern die alten Piaf-Chansons. Marthaler, derHintergrundmusik verabscheute, war froh, wenigstens nicht mit den üblichen Popsongs behelligt zu werden, die unentwegt über die Verkehrssender liefen. Und nicht mit dem endlosen dummen Gequassel der Moderatoren.
Frau Uhland winkte ab, als er für seine Übernachtung zahlen wollte. «Wenn ich schon mal zwei Gäste habe, die sich offensichtlich lieben», sagte sie, «und die nicht nur alle zwei Wochen zur festgelegten Zeit kommen, um für eine Stunde heimlich das Bett zu teilen …» Mehr sagte sie nicht. Nur, dass das Zimmer ja bereits bezahlt sei. Marthaler hatte genickt und sich bedankt. Und er hatte sich vorgenommen, der Frau zum Dank für ihre Freundlichkeit eine Aufnahme mit den Arien von Maria Callas zu schenken. Wer Piaf mag, dachte er, der hört vielleicht auch gerne die Callas. Und dann erinnerte er sich daran, wie er vor vielen Jahren einmal gemeinsam mit Katharina die Gräber der beiden Sängerinnen besucht hatte. Sie lagen auf demselben großen Friedhof im Osten von Paris – die Piaf in einem Erdgrab, die Asche von Maria Callas in einer Urne im Colombarium.
Tereza saß ihm gegenüber. Ihr Haar war noch ungekämmt, sie wirkte müde, aber zufrieden. Und er dachte, es könne vielleicht der richtige Moment sein, sie zu fragen, ob sie Weihnachten mit ihm nach Baunatal kommen wolle, wo er sie seinen Eltern vorstellen könnte.
Tereza lachte, und er schaute sie irritiert an. Er konnte sich nicht vorstellen, was an seiner Frage komisch war.
«Sie sind nett», sagte er. «Sie werden dich mögen. Und du sie auch.»
«Ich glaube sofort», sagte sie. «Ich wollte dich nur dasselbe fragen: ob du mitkommst nach Prag. Dann könntest du eine dicke Gänsekeule essen von meine Mutter …»
«Bitte nicht», unterbrach sie Marthaler, «bitte, sprich nicht vom Essen.»
«… und ich könnte meine
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