Die Braut im Schnee
Vater zeigen, dass du keine deutsche Nazi bist.»
Schon wieder, dachte Marthaler, schon wieder spricht mich jemand darauf an. Es hört nicht auf, und es ist wohl gut, dass es nicht aufhört. Erst gestern Abend hatte ihn eine junge Spanierin gefragt, was seine Eltern und Großeltern gemacht hatten in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Marthaler hatte nur vage darauf geantwortet. Sein Vater und seine Mutter waren damals noch Kinder gewesen, und über seine Großeltern wusste er zu wenig. Dann hatte sich herausgestellt, dass der Vater der jungen Frau ein fanatischer Anhänger General Francos gewesen und bis heute geblieben war. Und dass sie ihren Vater liebte und sich zugleich für ihn schämte.
«Also?», fragte Tereza.
«Nein», sagte Marthaler. «Das kann ich ihnen nicht antun. Ich muss nach Baunatal. Ich habe meine Eltern lange nicht mehr gesehen. Und erst neulich musste ich ihnen einen Korb geben, als sie mich besuchen wollten.»
«Einen Korb?»
«Ja, man sagt so. Frag mich nicht, warum.»
«Also müssen wir geschieden sein?»
«Nein, nicht geschieden», erwiderte er, «nur getrennt. Aber ich werde dauernd an dich denken.»
«Wehe nicht», sagte sie. «Ich merke es sofort.»
ZWEIUNDZWANZIG
Schon als die Kasseler Berge begannen, merkte Marthaler, dass etwas mit ihm vorging. Es war später Vormittag, die Sonne stand hoch über den hügeligen Feldern, und die Äste der Nadelbäume neigten sich unter der Last des Schnees, der in der vergangenen Nacht gefallen war. Alles war hell und feucht und glänzte. Langsam wälzte sich der vorweihnachtliche Verkehr über die A 5. Aber Marthaler hatte es nicht eilig. Je langsamer, desto besser. Er wollte sich seiner alten Heimat an diesem Tag vor Heiligabend behutsam nähern.
Er saß in dem grauen Daimler, im Radio spielte das Symphonieorchester des Hessischen Rundfunks die Finlandia von Sibelius, aber Marthaler hörte nicht hin. Er dachte an damals. An seine Jahre in Baunatal, wo er aufgewachsen und zur Schule gegangen und wo so vieles in seinem Leben zum ersten Mal geschehen war. Hier hatte er unter den Weiden am Ufer der Bauna seine erste Zigarette geraucht und im Unterholz hinter den Gärten das erste Mädchen geküsst. Hier hatte er auf dem Parkplatz am Haus das Fahrradfahren gelernt und war gleich am ersten Tag auf dem Rollsplitt so schwer gestürzt, dass seine Mutter ihm die kleinen Steine mit einer Pinzette aus den Handflächen picken musste.
Und im Wäldchen am Weiher hatte er seinen ersten Toten gesehen. Negrita hatte die Leiche des Jungen entdeckt und auch erkannt, dass es Kläuschen war, der Jüngste der vier Zander-Kinder, die erst vor einem halben Jahr mit ihren Eltern aus Karl-Marx-Stadt in den Westen gekommen waren. Schon seit dem Morgen wurde der Junge vermisst, und es kam nieheraus, was eigentlich passiert war. Lange hatte das Gemunkel nicht verstummen wollen, dass der Junge absichtlich ins Wasser gegangen war, weil er zu sehr gehänselt worden war wegen seines Feuermals, weil er den Verlust seiner alten Freunde im Osten nicht verschmerzt hatte, vielleicht auch, weil er wie so viele damals glücklos verliebt war in die dicke Uschi aus der Barackensiedlung, die eine Katzenbrille trug und die kürzesten Röcke weit und breit.
An all das dachte Marthaler jetzt, als er die letzte Kuppe hinter sich gelassen hatte und nun den Ort in der Senke liegen sah und über ihm am Horizont, wie eh und je, die hohen Schlote des Werks. Aber mehr noch dachte er an King, der lange sein bester Freund gewesen war, bis sie sich so gründlich zerstritten hatten, dass sie nie mehr ein Wort miteinander gewechselt hatten.
Eigentlich hieß King Axel Sonnenschein, und er sah auch so aus, jedenfalls auf den ersten Blick: mit seinem runden Gesicht, den Sommersprossen und dem rotblonden Stroh auf dem Kopf. Er war ein Zugezogener, aber wer war das nicht, damals, in den frühen Jahren der Stadt, als das Werk immer größer wurde und sich die Leute einverleibte wie ein hungriger Menschenfresser. Kings Mutter war Küchenhilfe in der Werkskantine und geschieden. Sie und King und seine Schwester Lille wohnten in der Gewobag, der schäbigsten jener Siedlungen, die man nach dem Krieg rasch hochgezogen hatte, um die zahllosen Familien unterzubringen, die hier Arbeit suchten.
Wenn Marthaler ihn morgens zur Schule abholte, stand King in der Stube vor dem alten Röhrenradio und dirigierte mit einer Stricknadel das Frühkonzert. An der Wand stand sein Klappbett und daneben der Sessel, auf
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