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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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erinnern, je in einer solchen Situation gewesen zu sein. Jede Stunde glich einem Wechselbad. Beruflich war er an einem Tiefpunkt angelangt. Eissler hatte ihn des Dienstes enthoben. Mit freundlichen Worten und vielleicht nur vorübergehend, aber es war klar: Marthaler konnte in nächster Zeit nicht so arbeiten, wie er es gewohnt war und wie er es am liebsten tat. Nicht mit den Kollegen an seiner Seite, die ihn unterstützen, an denen er sich reiben und die ihn korrigieren konnten. Sosehr er sich in den letzten Monaten eine Pause gewünscht hatte, so wenig schien ihm das jetzt der richtige Zeitpunkt. Auch wenn ihre Ermittlungen ins Stocken geraten waren, auch wenn sie nicht wussten, wie es weitergehen sollte, ein frei herumlaufender Mörder bedeutete eine Gefahr, die ihm die ersehnte Ruhe verwehrte.
    Gleichzeitig gab es Tereza, die jetzt hier war, bei ihm, in Frankfurt. Und mit ihr war etwas in Marthalers Leben getreten, das er lange vermisst und von dem er schon nicht mehr geglaubt hatte, dass es ihm noch einmal widerfahren würde. Alles war schrecklich, und alles war schön. Es war seltsam und doch so, als müsse es so sein: In dem Moment, da er verzagen wollte, gab es zugleich etwas, das ihn davon abhielt und ihm Zuversicht gab.
    Und während er jetzt darüber nachdachte, erinnerte sich Marthaler, dass es einen Satz gab, der alles, was gerade in ihmvorging, besser beschrieb, als er es je gekonnt hätte. Er wusste nicht mehr, wo er diesen Satz gelesen hatte, aber er war entschlossen, ihn zu finden. Es war während seines Germanistikstudiums in Marburg gewesen. Katharina hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Er erinnerte sich sogar noch an den Tag. Es war im Frühling gewesen. Sie hatte mit angezogenen Beinen auf der steinernen Brückenbalustrade unter einer überhängenden Weide an der Lahn gesessen und das Buch in der Hand gehalten. Selbst ihre Sandalen und ihre bunten Socken meinte er vor sich zu sehen. Sie hatten eine ganze Weile nebeneinander in der Sonne gesessen. Manchmal, wenn Wind aufgekommen war, hatte sich ihre Haut gekräuselt. «Hör mal», hatte sie gesagt, während er mit geschlossenen Augen lauschte. «Hör mal, was ich gefunden habe.» Und dann hatte sie ihm vorgelesen.
    An all das erinnerte er sich. Nur der Satz fiel ihm nicht ein, und nicht, wer ihn geschrieben hatte. Er stand aus seinem Sessel auf, ging zum Regal, legte den Kopf schief und begann die Buchrücken zu studieren. Ab und zu zog er einen der Bände heraus und blätterte ziellos darin herum. Manchmal las er ein paar Zeilen, die er vor vielen Jahren unterstrichen hatte, weil sie ihm damals bedeutsam vorgekommen waren. Jetzt begriff er nicht mehr, was er daran gefunden hatte. Manchmal fand er kurze, mit Bleistift an den Rand gekritzelte Notizen, aber auch die blieben ihm fremd.
    Endlich nahm er noch ein Buch zur Hand und ging zum Fenster. Bevor er die Vorhänge schloss, schaute er kurz rüber zur Wohnung seiner Nachbarin im gegenüberliegenden Haus. Dort war alles dunkel. Sie war nicht zu Hause oder sie schlief schon. Seine Konzentration ließ nach. Auch er war müde. Als er schon aufgeben wollte, stieß er in den hinteren Seiten des Bandes auf eine Unterstreichung. Er hatte den Satz gefunden. Er stammte aus dem Gedicht «Patmos», das FriedrichHölderlin dem Landgrafen von Homburg gewidmet hatte. Er hieß: «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.»
    Marthaler freute sich. Ihm war, als habe er einen Schatz geborgen. Er ließ das Buch aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch liegen. Er trank sein Glas aus, dann löschte er das Licht.

EINUNDZWANZIG
    In den folgenden Wochen geschah wenig. Marthaler fühlte sich wie jemand, den man vorzeitig in Rente geschickt hatte. Und der, damit sein Alltag nicht allzu trostlos wurde, einem Hobby nachging, das einmal sein Beruf gewesen war. Ihm waren die Hände gebunden. Gelegentlich erkundigte er sich bei Kerstin Henschel nach dem Fortgang der Ermittlungen. Das war alles, was er tun konnte.
    Am Tag nach der Pressekonferenz hatten die Zeitungen ausführlich über den Konflikt zwischen dem Leiter der Mordkommission und seinem Hauptkommissar berichtet. Anders als Marthaler gedacht hatte, gab es unter den Journalisten viele, die Verständnis für ihn aufbrachten oder sich sogar offen auf seine Seite stellten. Hans-Jürgen Herrmann war hingegen für seine ungeschickte Personalführung gerügt worden. Einzig der «City-Express» hatte, wie zu erwarten gewesen war, frontal gegen Marthaler Stellung bezogen.

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