Die Braut im Schnee
dem sich die Bücher stapelten, die er einmal pro Woche aus der Murhard’schen Bibliothek in Kassel holte. Er schien sich für alles zu interessieren– Philosophie, Geschichte, Chemie –, und all das schien er nur deshalb aufzusaugen, weil er irgendwann und so schnell wie möglich rauswollte aus diesem Mief, wie er es nannte. Und fast immer kam in diesen Tagen Lille rein, noch im Schlafanzug, gähnte und streckte sich, sodass man ihren Nabel sehen konnte, an den Marthaler dann den ganzen Tag denken musste.
Manchmal saß King mit untergeschlagenen Beinen auf einer Lichtung am Baunsberg, die Augen geschlossen, die Handflächen gen Himmel gestreckt, und meditierte. Dann wieder hockte er auf der Mauer unter dem Kirschbaum, die Freunde zu seinen Füßen, wo sie seinen Geschichten von früher lauschten, die er angeblich alle selbst erlebt hatte. Von seiner Fahrt auf dem Fischkutter übers Mittelmeer, von der Tour per Anhalter in die Provence, wo er in einem Nonnenkloster gewohnt und als Gärtner gearbeitet habe, und von dem Sommer bei den Hippies in Kopenhagens Christiania. Dreimal so alt hätte er gewesen sein müssen, damit diese Geschichten hätten stimmen können. Sie wussten alle, dass er log, aber gestört hatte es keinen.
Einmal war King von seinem Vater abgeholt worden, und Marthaler hatte mitfahren dürfen, als sie in dem großen BMW durch die Langen Berge fuhren und der Vater ihnen eine Tüte Campinos spendierte, jene Bonbons, die man nicht erst rundlutschen musste, weil sie schon so rund und glatt waren, wie Marthaler sich vorstellte, dass Lille sein müsse. Erst später war ihm aufgefallen, wie merkwürdig klein sich King gemacht hatte an jenem Nachmittag, wie seltsam verhuscht er gewesen war in Gegenwart seines «Alten».
King tauchte auf und wieder unter, war manchmal wochenlang verschwunden, um plötzlich wieder lachend vor seinen Freunden zu stehen. Wo er gewesen war, was er getan hatte, erzählte er nicht. Und heizte durch sein Schweigen die Phantasieder anderen immer aufs Neue an. Ungefragt akzeptierten sie ihn als Wortführer, aber ganz dazugehören tat er eigentlich nie. Und alle schauten sich ein wenig betreten an, wenn er mal wieder forderte, man müsse Grenzen überschreiten, «sämtliche Grenzen, wenn ihr wisst, was ich meine».
Später war King dann wirklich verschwunden, aber da hatte Marthaler sich längst mit ihm überworfen. Mal hieß es, er lebe in einer Landkommune in der Wetterau, würde nur noch Reggae-Musik hören und sich das Hirn wegkiffen, dann wieder, er sei in den Untergrund gegangen und würde als Logistik-Experte für eine kleine bewaffnete Gruppe arbeiten. Und einer wollte wissen, King sitze in der Psychiatrie in Merxhausen, weil er nicht mehr aufgehört habe, auf seiner Blockflöte die immer gleiche Melodie zu spielen: «Der Mond ist aufgegangen.»
Irgendwann, Jahre später, bekam Marthaler ein Foto aus Gomera: ein lachender King in Badehose, mit Blumenkranz im Haar und einer unbekannten Schönheit im Arm. Auf der Rückseite standen die Zeilen: «Alter, lass die Moleküle rasen, heilig halte die Ekstasen!»
Vor ein paar Monaten hatte Marthaler mit Holger telefoniert, einem der Freunde von damals, der inzwischen in Berlin lebte. Holger hatte King bei einem Besuch in Baunatal wieder getroffen, zufällig seien sie sich auf dem Marktplatz über den Weg gelaufen. Und King, bereits am Vormittag leicht angetrunken, habe erzählt, dass Lille auf einem der Dörfer in der Umgebung ein altes Schulhaus gekauft habe, wo er untergekrochen sei und dort gemeinsam mit seiner Schwester und deren Kindern lebe – jedenfalls vorübergehend, bis er wieder Boden unter den Füßen habe.
Als Marthaler nun von der Autobahn abbog und kurz danach die Eder überquerte, sah er das Hinweisschild. Nach ein paar Kilometern hatte er den Ortseingang des kleinen Dorfeserreicht. Er fragte nach der ehemaligen Schule und stand schon zwei Minuten später vor dem verwilderten Grundstück, das einmal der Schulhof gewesen sein mochte, jetzt aber eine ungemähte, mit Schnee bedeckte Wiese war. Hinter ein paar kahlen Obstbäumen stand ein altes Fachwerkhaus. Rechts und links des Gebäudes gab es kleine Anbauten, einen Kaninchenstall, einen Hundezwinger. Marthaler ging die ausgetretene Sandsteintreppe hinauf, klopfte an die Tür, und als sich niemand meldete, drückte er die Klinke und betrat den dunklen Korridor.
Am Tisch in der Küche saß eine rotblonde Frau mit dicken roten Wangen und schälte Kartoffeln.
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