Die Braut im Schnee
Kopfkissen hervor und schnäuzte sich.
«Und du liebst sie immer noch, nicht wahr», sagte Marthaler.
«Geh jetzt», antwortete King nach einer Weile. «Geh. Ich bin müde, ich bin krank, ich muss schlafen.»
Marthaler nickte. «Entschuldige», sagte er. «Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte wirklich nicht die geringste Ahnung.»
Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. So leise wie möglich schlich er die Treppe hinab. Als er auf der Straße bei seinem Wagen stand und die Fahrertür öffnete, schaute er noch einmal zum Haus. Lille stand am Küchenfenster. Sie lächelte. Marthaler glaubte, dass sie die Hand ein wenig hob, so als wolle sie ihm winken, sei sich aber nicht sicher, ob ihr Gruß noch erwünscht sei.
DREIUNDZWANZIG
Statt direkt nach Baunatal zu fahren, steuerte Marthaler den Wagen über die hügelige Landstraße zwischen den verschneiten Feldern hindurch in den Habichtswald. Zum ersten Mal, seit er Frankfurt verlassen hatte, dachte er wieder an den Fall. Eigentlich hatte er alles, was mit dem Mord an Gabriele Hasler und mit seiner Arbeit zusammenhing, während der Weihnachtstage vergessen wollen. Doch nun, nach dem, was er eben erfahren hatte, war alles wieder da: all die Geschichten über versteckte Leidenschaften, sexuelle Verirrungen und über die Gewalt, die dabei anderen oft angetan wurde. Fast stündlich hatte Marthaler im Laufe der Ermittlungen von Dingen erfahren, von denen er nicht geglaubt hatte, einmal damit konfrontiert zu werden.
King liebte seine Schwester. Man wusste, dass es dergleichen gab, und dennoch war man erstaunt, wenn es einem in der eigenen Umgebung begegnete. Marthaler fragte sich, wie die beiden damit umgingen, ob sie je darüber gesprochen oder ob sie womöglich sogar versucht hatten, wie ein Paar zusammenzuleben. Wie auch immer, er konnte sich vorstellen, wie viele verheimlichte Hoffnungen, wie viele versagte Wünsche, wie viele stumme Vorwürfe und wie viel Bitterkeit damit verbunden waren.
Ob Lille die Liebe ihres Bruders erwiderte, wusste er nicht. Vielleicht war es so, vielleicht hatte sie sich mit den anderen Männern nur zusammengetan, um dieser Liebe zu entfliehen. Und King war auf dem besten Weg, daran zugrunde zu gehen. Manche an seiner Stelle hätten sich mit Gewalt genommen, was sie freiwillig nicht bekamen. Das waren jene, mitdenen Marthaler dann zu tun bekam. Andere bestraften sich selbst, nahmen sich das Leben oder verfielen dem Alkohol. Zu denen gehörte King. Und es war wohl ein unvermeidbarer Teil dieser Geschichte, dass er den einzigen Menschen, den er wirklich liebte, mit in sein Elend zog.
Marthaler hielt am Straßenrand. Er zog sein Handy hervor und wählte die Nummer von Kerstin Henschel. Er merkte, dass sein Anruf ungelegen kam.
«Was ist?», fragte sie.
«Ich wollte hören, wie es geht. Seid ihr weitergekommen?»
«Nichts geht. Wir sind blockiert. Herrmann lässt uns ausschließlich nach Helmut Drewitz suchen. Wir schreiben Anfragen ins Ausland, wir kontrollieren Passagierlisten, wir gehen falschen Hinweisen nach. Entsprechend ist hier die Stimmung.»
«Was mir eingefallen ist: Hat Morell sich eigentlich nochmal gemeldet? Das Ergebnis der ballistischen Untersuchung müsste doch längst vorliegen.»
«Ja. Bloß war der Bericht mal wieder irgendwo auf dem Dienstweg hängen geblieben. Die Projektile bei dem Mord in Kranichstein wurden tatsächlich aus einer Polizeipistole abgefeuert. Die Analyse der Hülsen hat das zweifelsfrei ergeben. Die Waffe ist vor Jahren einem Kollegen während einer Großdemonstration auf dem Römerberg gestohlen worden. Also nichts, was uns weiterbringt.»
«Gut», sagte Marthaler, «dann rühre ich mich wieder, wenn ich zurück in Frankfurt bin.»
Es dämmerte bereits. Er parkte unter einer Straßenlaterne in der Nähe einer Telefonzelle. Jedes Mal, wenn er seine Eltern besuchte, hatte er Mühe, sich in der Reihenhaussiedlung zurechtzufinden, die erst in den letzten Jahren auf den Feldernaußerhalb des alten Ortskerns erbaut worden war. Die Straßen glichen einander zum Verwechseln, und ein Haus sah aus wie das andere.
Gegen Ende seiner Oberschulzeit hatte sein Vater die kleine Tischlerei, die er aufgebaut und viele Jahre betrieben hatte, aufgeben müssen und danach in einer großen Möbelfabrik gearbeitet. Damals waren sie von Baunatal nach Kassel gezogen, und erst, als sein Vater in Rente gegangen war und Marthaler längst in Frankfurt lebte, waren seine Eltern zurückgekehrt und hatten das kleine
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