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Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
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wie sehr ihm seine Kindheit immer noch gegenwärtig war, an wie viele kleine Begebenheiten und Stimmungen er sich erinnerte, die er doch längst vergessen zu haben glaubte. Dennoch kam er als Fremder. Er gehörte nicht mehr dazu. Er studierte die Gesichter der Leute, die ihm entgegenkamen,aber erkannte niemanden und wurde auch von keinem erkannt. All das war zu lange her. Die alte Vertrautheit stellte sich nicht wieder ein.
    Er ging in eines der großen Kaufhäuser und suchte für seine Mutter ein Fläschchen Parfum aus und eine Gesichtscreme. Sein Vater würde ein Rasierwasser bekommen und eine Gewürzseife. Und als er an einem Feinkostladen vorbeikam, beschloss er, dort noch einen Präsentkorb zusammenzustellen, in den er ein paar Pasteten, zwei Flaschen Wein, ein Stück italienischen Schinken, ein halbes Pfund Pecorino und eine große Dose mit Weinbergschnecken packen ließ – Dinge, von denen er hoffte, dass seine Eltern sie mochten, die sie sich aber niemals selbst leisten würden.
    Bereits am späten Vormittag war er zurück in Baunatal. «Tut mir einen Gefallen», sagte seine Mutter, «und lauft mir nicht ständig zwischen den Füßen herum. Macht was, geht raus, beschäftigt euch, aber stört mich bitte nicht bei den Vorbereitungen. Holt euch meinetwegen noch irgendwo eine Bratwurst; vor heute Abend gibt’s bei mir jedenfalls nichts mehr zu essen.»
    Sein Vater zwinkerte ihm zu. «Gut, wenn wir hier nur stören», sagte er, «dann gehen wir eben noch ein bisschen an die Luft.»
    Die Luft, Marthaler wusste es, war nur ein anderes Wort für die «Alte Krone», den Gasthof im Nachbardorf, in dem sich sein Vater ein-, zweimal im Monat mit seinen Freunden und ehemaligen Arbeitskollegen traf, um Karten zu spielen.
    Sie durchquerten die Siedlung, und immer wieder blieb der Vater kurz stehen, um jemanden zu begrüßen und auf seinen Sohn hinzuweisen, der aus Frankfurt da sei, um seine Eltern zu besuchen. Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Marthaler nickte freundlich, schüttelte Hände, lächelte, aber jedes Mal musste er hinterher zugeben, dass ihm all dieNamen ehemaliger Nachbarn nichts mehr sagten oder allenfalls vage Erinnerungen in ihm wachriefen.
    Sie liefen den Fußweg am kleinen Zulauf der Bauna entlang, vorbei am See und an all den neu erbauten Häusern, die jetzt dort standen, wo einmal die Felder und Wiesen gewesen waren, auf denen Marthaler all die Nachmittage mit seinen Freunden spielend verbracht hatte.
    Als sie die «Alte Krone» betraten, schlug ihnen der Dunst von Bier und Zigarettenrauch entgegen. Weil alle Tische besetzt waren, stellten sie sich an die Theke zu einer Gruppe von drei Männern, die sein Vater mit Handschlag und Vornamen begrüßte. Sie waren etwas jünger als er und hatten alle drei in derselben Abteilung im Werk gearbeitet, bevor sie sich eine Abfindung hatten zahlen lassen und in Frührente gegangen waren. Sie sprachen über ihre Häuser, die noch aufgestockt, und über ihre Autos, die in Kürze gegen ein größeres Modell ausgetauscht werden sollten. Alle hatten sie Kinder, und wollte man ihnen glauben, so war jedes dieser Kinder besser geraten als das andere. Sie sahen müde aus und erschöpft von einem viel zu harten Arbeitsleben am Fließband. Und dass das meiste, was sie erzählten, gelogen war oder zumindest geprahlt, sah man ihren Gesichtern an, die verquollen waren vom Alkohol.
    Marthaler begnügte sich damit, ein interessiertes Gesicht zu machen, um den anderen nicht das Gefühl zu geben, sie müssten sich um ihn, der hier ein Fremder war, kümmern und womöglich das Gesprächsthema wechseln. Aber er dachte an das, was King ihm gestern gesagt hatte, dass hier viele an ihrem mickrigen Wohlstand erstickten und keiner mehr in der Lage war, sich ein anderes Leben vorzustellen.
    «Was ist mit dir? Die drei haben dir nicht gepasst, was?», fragte sein Vater, als sie sich auf dem Rückweg befanden.
    «Wie kommst du darauf?», fragte Marthaler.
    «Weil ich dich kenne. Weil du mein Sohn bist. Weil ich dir deinen Unmut angesehen habe, auch wenn du gelächelt hast.»
    «Warum lügen sie sich selbst in die Tasche? Warum tun sie so, als würde es ihnen prächtig gehen? Man sieht ihnen doch an, was für arme Schlucker sie sind. Man hat sie ausgenutzt, man hat sie eine Arbeit machen lassen, die ein Roboter oder ein Affe genauso gut hätte machen können. Aber ein Affe wäre weggelaufen. Sie dagegen haben brav ein ganzes Leben lang geschuftet, ohne einmal nachzudenken,

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