Die Braut im Schnee
ohne einmal aufzumucken. Mit ein bisschen Geld haben sie sich abspeisen lassen. Und jetzt fällt ihnen nur noch ein, den billigsten Baumarkt zu suchen und ihre Autos zu waschen. Und sich ihrem Ende entgegenzusaufen. Das ist jämmerlich. Ein solches Leben ist einfach nur jämmerlich.»
Sein Vater lief noch ein paar Meter schweigend neben ihm her. Und dann tat dieser ruhige, immer auf Harmonie bedachte Mann etwas, das er seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr getan hatte: Er wurde böse. Er war stehen geblieben und schaute seinem Sohn in die Augen. Marthaler sah, wie sich sein Gesicht vor Zorn gerötet hatte, wie er noch zögerte und wie es schließlich doch aus ihm herausbrach.
«Diese Männer sind fünfundvierzig Jahre lang jeden Tag acht Stunden in diese Knochenmühle gegangen. Manchmal auch nachts, in wechselnden Schichten, und immer dauert es tagelang, bis man in dem neuen Rhythmus drin ist. Als die dort anfingen, waren sie mutig, waren witzig und stark. Aber sie haben von Anfang an gewusst, sie werden ihr Leben lang dort hingehen, bis zur Rente oder bis sie tot umfallen. Sie hatten doch keine Wahl. Alle Züge waren abgefahren. Es gab nichts anderes. Und sie haben ihren Kopf und ihre Knochen dafür hingehalten, dass ihre Kinder nicht dasselbe tun müssen. Manchmal hat das geklappt, manchmal nicht. Aber ihreSchufterei war die Grundlage dafür, dass solche wie du studieren und was anderes machen konnten. Und jetzt kommst ausgerechnet du und willst ihnen erzählen, dass sie sich was in die Tasche lügen. Glaub mir, sie wissen nur allzu genau, was für arme Schlucker sie sind. Sie haben nur Techniken entwickelt, um es auszuhalten. Das kannst du Lüge oder Selbstbetrug nennen, es ist scheißegal. Sie haben es für dich und deinesgleichen getan. Sie wussten immer, dass sie durchhalten müssen. Mehr war nicht drin für sie: einfach durchhalten. Jetzt schreib du ihnen bitte nicht am Ende auch noch vor, den Mist zu untersuchen, in dem sie ein Leben lang gesteckt haben.»
Marthaler war zu überrascht, um zu wissen, wie er reagieren sollte. Er konnte sich nicht erinnern, dass sein Vater ihm in den letzten Jahren einmal ernsthaft widersprochen hatte. Immer war er seinem Sohn mit freundlicher Nachsicht begegnet. Aber jetzt war ihm der Kragen geplatzt, und das, nachdem sie sich so lange nicht gesehen hatten. Ausgerechnet zu Weihnachten. Er ahnte, wie tief er seinen Vater getroffen haben musste mit dem, was er gesagt hatte. Er hatte über die drei Männer aus der Kneipe gesprochen, aber sein Vater hatte es auf sich bezogen; er hatte sein eigenes Leben durch seinen Sohn in Frage gestellt gesehen.
Marthaler war tief beschämt. Er entschuldigte sich, aber er konnte seinem Vater nicht in die Augen schauen. Der schüttelte den Kopf. «Du musst dich nicht entschuldigen. Denk einfach mal drüber nach, was ich gesagt habe. Mehr verlange ich nicht. Ich war auch oft genug bereit, über das nachzudenken, was du mir gesagt hast. Und jetzt lassen wir es wieder gut sein, ja. Ich möchte nicht, dass Mutter merkt, dass wir gestritten haben.» Dann reichte er seinem Sohn ein Kaugummi. «Hier», sagte er, «nimm das. Sie muss auch nicht merken, dass wir Bier getrunken haben.»
Als er am späten Nachmittag des ersten Weihnachtstages wieder in Frankfurt ankam, merkte Marthaler, dass er Fieber hatte. Sie hatten noch gemeinsam die kleine Gans gegessen, die seine Mutter gebraten und sein Vater zerteilt hatte, dann hatte er seine Tasche gepackt, und sie waren nach draußen zu seinem Wagen gegangen.
«Ruf an, wenn du angekommen bist», hatten sie beide zum Abschied gesagt. Und als er schon fast an der Kurve am unteren Ende der Hauptstraße angekommen war, hatte er gesehen, dass sie noch immer auf dem Bürgersteig standen und ihm nachwinkten.
Zu Hause legte er sich ins Bett und schlief bis zum nächsten Mittag. Er wollte gegen die Krankheit ankämpfen. Er nahm ein Erkältungsbad, dann zog er sich an und kochte Tee. Er versuchte Tereza zu erreichen, bekam aber keine Verbindung. Er rief Kerstin Henschel an, wünschte ihr frohe Weihnachten und fragte, ob es in den letzten Tagen etwas Neues gegeben habe.
«Nein», sagte sie, «nichts. Überhaupt nichts. Wir haben weitergearbeitet, Befragungen durchgeführt, alte Akten gewälzt. Aber es gibt nichts, was du nicht schon wissen würdest.»
«Gut», erwiderte er. «Dann werde ich jetzt meine Sportklamotten anziehen und ein wenig durch den Stadtwald rennen.»
«So, wie du dich anhörst,
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