Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Braut im Schnee

Die Braut im Schnee

Titel: Die Braut im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Seghers
Vom Netzwerk:
Reihenhaus gekauft, nicht weit von jener Siedlung, in der er aufgewachsen war und seine gesamte Kindheit verbracht hatte.
    Marthaler hatte sich in diesem Haus nie recht heimisch gefühlt, aber er wusste, wie stolz seine Eltern waren, sich so spät doch noch das lange ersehnte Eigenheim leisten zu können. Seine kleine Reisetasche geschultert, ging er auf den Eingang zu und sah noch vom Bürgersteig aus beide Eltern in der erleuchteten Küche stehen. Sie sprachen miteinander. Seine Mutter schüttelte den Kopf, dann drehte sie sich weg. Der Vater schien kurz zu zögern, dann näherte er sich ihr von hinten, streichelte über ihr Haar und ließ seine Hand auf ihre Schulter sinken. Marthaler sah, was sein Vater noch nicht sehen konnte. Die Mutter hatte ihren ernsten Gesichtsausdruck aufgegeben. Jetzt lächelte sie. Mit einem Mal drehte sie sich um und schmiegte sich in die Arme ihres Mannes.
    Als sie sich küssten, schaute Marthaler weg. Obwohl sie immer sehr liebevoll miteinander umgegangen waren, konnte er sich nicht erinnern, je gesehen zu haben, dass sie in seiner Gegenwart Zärtlichkeiten austauschten. Sie hatten es aus Scham vermieden. Er hatte über vierzig Jahre alt werden und sie heimlich von der dunklen Straße aus beobachten müssen, um zu sehen, wie sie sich küssten.
    Er wartete einen Moment, dann ging er zur Haustür undklingelte. Sein Vater öffnete. Auf seinem Gesicht war noch immer ein Abglanz dessen zu sehen, was gerade geschehen war. Er wirkte weich und zufrieden.
    «Robert», sagte er. «Wir haben erst morgen mit dir gerechnet.»
    «Ja, ich bin einfach losgefahren. Ich wollte weg. Ich wollte euch sehen.»
    «Das ist schön. Da wird sich Mutter freuen. Komm rein.»
    Sie umarmten einander, ein wenig scheu, wie sie es immer taten.
    «Und ich?», beschwerte sich seine Mutter, die bereits hinter ihrem Mann aufgetaucht war. «Was ist mit mir?»
    Fast hätte Marthaler gesagt: Aber du bist doch gerade erst verwöhnt worden. Stattdessen nahm er sie in den Arm und küsste sie auf die Wange.
    «Du musst hungrig sein», sagte sie. «Du bist ja ganz dünn geworden. Ich mach uns gleich mal Abendbrot.»
    «Ja, aber erst würde ich gerne noch eine Runde laufen.»
    «Laufen?», fragte sein Vater.
    «Ja, ich treibe ein wenig Sport.»
    Er zog sich um und rannte los. Dreimal umrundete er in der Dunkelheit den großen See, dann war er erschöpft und kehrte um. Beim Abendessen bestürmten ihn seine Eltern mit Fragen, aber als sie merkten, dass er nicht in der Stimmung war zu plaudern, setzten sie sich gemeinsam ins Wohnzimmer und sahen fern. Es war erst kurz nach zehn, als sein Vater im Sessel einschlief. «Wenn das so ist», erklärte seine Mutter, «dann legen wir uns wohl mal lieber hin. Morgen ist auch wieder ein langer Tag.»
    Es waren dieselben Worte, die sie schon vor dreißig Jahren Abend für Abend gesagt hatte. Daran hat sich also auch nichts geändert, dachte Marthaler, und es war ihm recht. Er legte sich in das frisch bezogene Bett im Gästezimmer. Er hatteseine Taschenbuchausgabe von Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» mitgenommen und hätte gerne noch ein wenig darin gelesen. Aber er war zu müde; schon nach wenigen Seiten schlief er ein.
     
    Als er am nächsten Morgen aus seinem Zimmer kam, waren seine Eltern bereits wach. Während der Vater den Weihnachtsbaum schmückte, setzte Marthaler sich in die Küche zu seiner Mutter, die das Essen für den Abend vorbereitete. Wie immer am Heiligen Abend würde es Heringssalat mit Roter Bete geben.
    Nachdem er gefrühstückt hatte, fuhr er mit der Straßenbahn nach Kassel, um noch rasch ein paar kleine Geschenke zu kaufen. Am Rathaus stieg er aus und schlenderte die Königsstraße hinab bis zum Altmarkt. Es wurden Erinnerungen wach an seine Schulzeit, als er hier oft mehrmals die Woche herumgestreift war. An die Buchhandlung, wo er Salingers «Fänger im Roggen» gekauft und gleich auf einer Bank in der Sonne zu lesen begonnen hatte. An den alten Mann, der ihn zu einem Kaffee eingeladen und ihm erzählt hatte, wie er während der Bombennächte aus der Stadt geflohen und drei Tage später zurückgekehrt sei, aber nur noch die verkohlten Leichen seiner Eltern und Geschwister gefunden habe. Und auch an jenen warmen Tag im Herbst, als er den Unterricht geschwänzt hatte, um sich im Kino am Königsplatz zum dritten Mal die Verfilmung von Bölls «Ansichten eines Clowns» anzuschauen.
    Als er jetzt den breiten nordhessischen Dialekt um sich herum hörte, merkte er,

Weitere Kostenlose Bücher