Die Braut im Schnee
Sie trug eine Kittelschürze und hatte ihr Haar am Hinterkopf zusammengebunden. Als sie Marthaler bemerkte, schaute sie auf, hob die Brauen und strich sich mit dem Handgelenk eine Strähne aus der Stirn.
«Lille?», fragte er.
Lange schaute sie ihn forschend an. Endlich zeigte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht, das allmählich breiter wurde. «Ich glaub’s nicht», sagte sie, «nee, das glaub ich nicht.»
Dann stand sie auf, wischte sich die Hände an der Kittelschürze ab und kam zögernd auf ihn zu. «Oh, Mist», sagte sie, «jetzt schäm ich mich aber. Wie ich rumlaufe …, wie es hier aussieht. Mensch, Robby, das gibt’s doch gar nicht.»
Mehrmals schaute sie ihm kurz in die Augen und senkte sofort wieder den Blick. Sie war wirklich verlegen. Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm.
«Nee, Mensch, komm mir nicht zu nah. Ich rieche nach Stall.» Sie wollte ihn abwehren, aber Marthaler ließ es nicht zu.
«Gut riechst du», sagte er. «Nach Dorf und Milch und frischer Luft.»
«Und nach Ziegenmist», sagte sie in seine Achselhöhle hinein.Dann trat er einen Schritt zurück, hielt sie aber weiter an den Oberarmen fest und schaute ihr in die Augen.
«Ja. Nach Ziegenmist. Und du siehst auch gut aus.»
Jetzt lachte sie. «Prima sehe ich aus. Wie eine dralle Pute sehe ich aus.» Dann löste sie sich aus seinem Griff.
Es stimmte, sie hatte zugenommen seit damals, und sie war noch immer einen Kopf kleiner als Marthaler. Aber sie gefiel ihm, wie sie ihm schon damals gefallen hatte mit ihrem gedrungenen Körper, dem breiten Gesicht, das sie mit ihrer Mutter und dem Bruder teilte, und den tanzenden Sommersprossen auf der Nase. Lille war ihm oft wie ein schläfriges Tier vorgekommen, wenn sie morgens nochmal ins warme Bett ihres Bruders kroch. Oder sich im Sommer auf der Wiese im Schwimmbad selbstvergessen räkelte. Es konnte passieren, dass sie eben noch bewegungslos in der Sonne döste, kurz darauf aber mit einer flinken Bewegung auf den Beinen stand, zum Beckenrand spurtete, ins Wasser sprang, das sie tauchend wie ein Otter durchquerte, um sich auf der anderen Seite hochzustemmen und dort dann mit angezogenen Beinen, den Kopf auf die Knie gelagert, die nächste halbe Stunde reglos auf den warmen Steinplatten sitzen zu bleiben.
«Und jetzt?», sagte sie. «Du willst bestimmt zu King.»
«Ja», sagte Marthaler, «ich wollte mal schauen, wie es euch geht.»
«Er hockt bestimmt oben in seiner Butze. Aber pass auf, dass du keinen Schrecken bekommst. Besser, ich warne ihn vor. Gib uns fünf Minuten, ja.»
Sie stieg die steile Holztreppe hinauf, und Marthaler hörte, wie sie zaghaft gegen eine Tür klopfte. «King, wach auf», rief sie leise. «Wie geht’s dir? Du kriegst Besuch. Hast du gehört. Wach auf, King.»
Marthaler schaute sich um. An der Garderobe hing Kinderkleidungin verschiedenen Größen. Darunter stand eine ganze Batterie Schuhe. Es gab einen Spiegel und darunter ein altes Sideboard, neben dem ein Katzenkorb stand. An den Wänden hing eine uralte, groß gemusterte Tapete, die sich an einigen Stellen abgelöst hatte. Es roch nach Tieren, nach Feuchtigkeit und nach den zahllosen Mahlzeiten, die in der großen Wohnküche, die einmal der Klassenraum gewesen sein mochte, über die Jahre gekocht worden waren. Das alles wirkte wie ein Haushalt, der nur mit Mühe aufrechterhalten wurde. Und Marthaler ahnte, wessen alleinige Aufgabe das war.
Lille erschien auf dem Treppenabsatz. «Du kannst jetzt kommen», rief sie. Dann verschwand sie wieder in der Dunkelheit des oberen Stockwerks.
Doch obwohl sie ihn vorgewarnt hatte, bekam Marthaler einen Schrecken, als er jetzt in der Tür jenes kleinen Zimmers stand, das sie Kings Butze genannt hatte. Es herrschte ein einziges Durcheinander. Überall lag schmutzige Kleidung herum, auf dem Boden stapelten sich Zeitschriften, die Schranktür stand offen, und der einzige Stuhl schien als Nachttisch zu dienen.
King saß im Bett. Er versuchte zu lächeln. Er war dünn geworden und alt. Bevor sie das Zimmer verließ, gab sie ihrem Bruder einen Kuss auf die Stirn. «Ich geh dann mal», sagte sie mit einem Lächeln, zu Marthaler gewandt. «Ich muss mich ums Essen kümmern; die Kinder kommen bald aus der Schule.» Und zu ihrem Bruder: «Und du wirst dich benehmen, ja?!»
Kings Augen waren gerötet, seine Lippen aufgesprungen.
«Entschuldige», sagte Marthaler, der ein wenig hilflos in dem niedrigen Raum stand und unwillkürlich den Kopf ein wenig einzog. «Ich
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