Die brennende Gasse
diese Weisheit möge die Oberhand gewinnen. Aber an jenem Nachmittag, Freitag, den Dreizehnten, beobachtete er entsetzt, wie ein bösartiger Mob dieselben mitfühlenden Deputierten Straßburgs aus dem Rathaus schleifte und durch Sympathisanten ersetzte. Am Morgen des St.-Valentins-Tages wurden die Juden vor die Wahl gestellt: Taufe oder Tod durch Verbrennen. Vielleicht tausend waren vorgetreten, um das Sakrament des heiligen Johannes zu empfangen. Der Rest, manche sagten fünfzehntausend, wurde verbrannt. Viele zogen es vor, sich im Ghetto selbst zu opfern, statt mitsamt ihren Angehörigen auf den gemeinsamen Scheiterhaufen im Feuer zu enden.
Er spürte gleichsam, wie ihre Asche auf ihn niederrieselte, und das Schnauben seines scheuenden Pferdes drang ihm in die Ohren. Abermals schien ihm der Schlamm der gefurchten Straßen ins Gesicht zu fliegen, ihn blind zu machen, ihm Tränen in die Augen zu treiben. Alejandro kroch das Entsetzen durch die Adern, er schrie um Gnade, betete um Erlösung …
Überrascht vernahm er, wie Kates sanfte Stimme ihn aus seinem Abgrund rettete.
» Père … «
Sie hatte den Ausdruck auf seinem Gesicht schon tausendmal wahrgenommen, den glasigen Blick des Schmerzes, den er eindeutig nicht verbergen konnte. Er überkam ihn oft, unerwartet, fiel über ihn wie der Schatten eines Berges und nahm ihm alles Licht.
» Père, wir sind da. «
Einen Moment lang wirkte er verwirrt. » Was … wo? «
» Die Lichtung. «
» Ach ja «, stammelte er mit unsicherer Stimme. » So bald schon? «
Ihrem Gefährten entging dieses leise, geübte Ritual der Rettung nicht. Der Franzose Karle wußte ihre Mienen zu deuten und nahm an, daß die Tochter dem Vater schon viele Male zu Hilfe geeilt war. Sie hat ihn aus irgendeiner bösen Erinnerung zurückgeholt, dachte er bei sich, während er sein Ende der Bahre absetzte. Fast mechanisch tat Alejandro dasselbe.
» Kaum bald genug «, sagte der junge Franzose und wedelte mit den Armen, um die Steifheit loszuwerden. » Möchtet Ihr Euch noch länger quälen? «
Der Arzt brauchte noch einen Moment, um sich zu fassen, und Karle musterte ihn genau. Alejandro schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und rieb sich rasch die Schläfen.
» Nein «, sagte er leise, » einstweilen war das Sühne genug. « Er streckte die Hand aus, nahm von Kate den Spaten entgegen, drückte die Spitze auf den Boden und prüfte dessen Härte. » Hier scheint die Erde weich genug. Ich werde sie lockern, und Ihr räumt sie beiseite. «
Karle nickte und ließ sich auf die Knie nieder. Jeweils nach ein paar Spatenstichen von Alejandro schaufelte Karle mit bloßen Händen das gelockerte Erdreich zur Seite. Kate half auch mit, und bald war das Loch zu tief, um die Erde vom Rand her zu entfernen. Karle sprang hinein und fuhr fort, die Brocken hinauszuwerfen. Sie hörten zu graben auf, als er bis zur Brust in der Vertiefung stand.
» Ich denke, das reicht «, meinte Karle.
Es sollte eine ganze Körperlänge tief sein, dachte Alejandro bei sich, sonst werden die Tiere kommen. Aber er hatte schon viel flachere Gräber gesehen, Massengräber, in denen Hunderte von Pestopfern bloß von einer Schaufel Erde bedeckt waren – im Vergleich dazu erschien dieses Grab eine königliche Krypta. Er reichte Karl e e ine Hand, um ihm herauszuhelfen, und zusammen rollten sie den Leichnam in das Loch, legten auch den abgetrennten Arm des anderen Mannes dazu.
Als die Erde wieder an Ort und Stelle und festgetreten war, standen beide Männer schweigend daneben. Kate war überrascht, daß der Franzose Karle, der seinen toten Kameraden unbedingt anständig begraben sehen wollte, so wenig Interesse zeigte, sich um die unsterbliche Seele des Mannes zu kümmern. Von Alejandro war solche Geringschätzung zu erwarten: Er hegte offene Verachtung für christliche Rituale. Doch bald wurde es ihr klar. Der Jude und der Franzose starrten einander an, weil sie mit gegenseitigem Mißtrauen beschäftigt waren. Gebete für den Toten hatten keinen Platz.
Ach Père, dachte sie traurig, wann werdet Ihr Euch von diesem Argwohn verabschieden, wenn überhaupt jemals? Sie wußte, daß es bei ihm schrecklich lange dauerte, bis er neue Menschen akzeptierte und ihnen vertraute; und solange er sich nicht sicher fühlte, behielt er seine Identität streng für sich.
Doch der Franzose war nicht so vorsichtig oder scheu. » So, nun ist es vollbracht «, verkündete Karle. » Allein hätte ich das nicht geschafft, und ich
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