Die brennende Gasse
Verzweifelter sein Wasser trinken, dachte er.
Auf der Brücke verkehrten fast nur Fußgänger, denn Pferde waren maßlos kostbar geworden. Er hatte eine stattliche Summe bezahlt, um sein eigenes Pferd in einem Stall am Nordrand der Stadt unterzubringen, und dem Knecht noch mehr versprochen, wenn er zurückkam – mehr, als dieser durch den Verkauf des Pferdes herausschlüge. Der Adel hielt sich ängstlich zurück oder war ganz aus der Stadt geflohen, und man sah nur wenige Kutschen. Gelegentlich begegnete er einem von einem Maultier gezogenen Karren, aber sonst waren ausschließlich Fußgänger unterwegs.
Als er die Insel erreicht hatte, blieb er stehen und starrte zur Kathedrale Notre Dame de Paris empor. Für einen Moment ließ er sich von der geballten christlichen Macht dieses gewaltigen Bauwerks beeindrucken, denn es war von großer Schönheit; er fand sich hin und her gerissen zwischen der Bewunderung seiner Pracht und dem Wissen um das, wofür dieses Wahrzeichen stand. Sicherlich mußte es inzwischen vollendet sein; die päpstlichen Wachen, die ihn vor einem Jahrzehnt auf seinem Ritt durch Frankreich begleitet hatten, hatten davon gesprochen und die Tatsache beklagt, daß sie keine Gelegenheit haben würden, es aufzusuchen. Doch e r e rinnerte sich noch genau, wie sie es ihm beschrieben hatten, ein Turm fertig, der andere noch im Bau. Er schaute prüfend hinauf und verglich die beiden Türme. Sie waren weitgehend gleich. Kurz fragte er sich, wie man nach den Pestjahren, die die Bevölkerung furchtbar dezimiert hatten, noch tüchtige Bauleute fand. Höchstwahrscheinlich hat man sie zur Arbeit gezwungen, oh sie wollten oder nichts, dachte er. Christliche Priester hatten Mittel, ihre Gläubigen zum Werk Gottes zu überreden, das wußte er. Viele Mittel.
Und hier würde er mit ziemlicher Sicherheit Priester finden. Während es an anderen Kirchen keine Seelenhirten mehr gab, würde dieses Kronjuwel Frankreichs von ihnen überlaufen sein. Er beneidete die Pfarrkinder nicht.
Er überquerte den weiten, offenen Platz, umging die allgegenwärtigen Tauben und fragte sich kurz, wieso man sie noch nicht gefangen und gegessen hatte. Durch die weichen Sohlen seiner Lederstiefel spürte er jeden Kopfstein, und aus der Nähe ragte die Kathedrale immer höher auf. Ihn fröstelte, als er in ihren Schatten trat, und er fühlte sich bedrückt, als streckte der christliche Gott seine Hände vom Himmel herab und lasse sie auf seine Schultern fallen. Auf einmal waren die Steine unter seinen Füßen kalt, und er blieb stehen.
Der erhabene Gleichklang singender Stimmen drang aus der offenen Tür der Kathedrale. Alejandro stand still und lauschte. Trotz seines Mißtrauens gegen das Christentum ließ er die fesselnden, harmonischen Töne in seine Seele dringen. Warum war ihre Musik so verdammenswert schön, während alles andere nur verdammenswert war? Seine geliebte Adele hatte oft unter ihrem Bann ihre Sünden gebeichtet, und einmal, als er auf sie gewartet hatte, hatte selbst er die hypnotisierende Wirkung der sehnsüchtigen Klänge verspürt.
Aber jetzt wartete er nicht auf ein reuiges Beichtkind, und er würde es nicht zulassen, daß die Musik ihn gefangennahm; denn sein Geist konnte sich diesen sinnlichen Luxus im Moment nicht erlauben. Es galt, die Bedeutung eines Wortes aufzuklären.
» Maranatha « , sagte er vorsichtig zu dem ersten Priester, der ihm begegnete. » Was bedeutet das? «
Doch der Priester, eine abgerissenere Erscheinung, als er in dieser Kathedrale erwartet hätte, starrte Alejandro nur an und gin g w eiter. Der nächste lächelte wenigstens. » Gott wird es wissen, mein Sohn, aber ich ganz sicher nicht. « Alejandro war dankbar für die Freundlichkeit des Mannes, aber enttäuscht über seinen Mangel an Wissen. Der dritte schüttelte einfach den Kopf und zuckte mit den Schultern. Der Arzt war um nichts klüger als vor den kurzen Begegnungen.
Also muß ich mich doch zur Universität begeben, dachte er mit leiser Enttäuschung; obwohl ihn die Vorstellung erregte, hatte er gehofft, es würde sich erübrigen – denn nun bliebe er der Rue des Rosiers länger fern, als ihm lieb war. Er schaute zur Sonne empor; sie stand noch hoch genug, um einen kurzen Gang über die Seine zu gestatten. Daher trat er aus den Schatten von Notre Dame und überquerte die Brücke zur rive gauche.
Es erstaunte ihn, daß in solchen Zeiten noch studiert wurde, aber ringsumher gab es unverkennbare Anzeichen dafür. Gewiß waren es
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