Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Zeitpunkt hatte er bereits knapp zwei Jahre abgesessen, und Dombrowskis Bedingungen waren denkbar einfach. Harry sollte in einen anderen Teil des Landes ziehen,und als Gegenleistung für einen Geldbetrag, der ihm den Aufbau eines neuen Geschäfts ermöglichen würde, musste er sich verpflichten, sich nie mehr in Chicago blicken zu lassen und jeglichen Kontakt mit Bette und Flora abzubrechen. Dombrowski betrachtete Harry als sittlich verkommen, als Exemplar einer minderwertigen Subspezies einer Lebensform, die man nicht vollauf als menschlich gelten lassen konnte, und gab ihm persönlich die Schuld an Floras Krankheit. Sie war verrückt, weil Harry Bette mit seinem ungesunden, schadhaften Sperma geschwängert hatte, und jetzt, da er sich als Schwindler und Verbrecher erwiesen habe, erwarte ihn nach seiner Entlassung ein Leben in Armut und Leid, es sei denn, er verzichte auf alle Ansprüche aus seiner Vaterschaft. Harry verzichtete. Er beugte sich Dombrowskis schmutzigen Forderungen, und diese Kapitulation machte ihm ein neues Leben möglich. Er entschied sich für Brooklyn, weil das New York und doch nicht New York war und weil er dort kaum Gefahr lief, einem seiner früheren Kollegen aus der Kunstszene zu begegnen. An der Seventh Avenue in Park Slope stand eine Buchhandlung zum Verkauf; in der Buchbranche kannte Harry sich nicht aus, aber der Laden kam seinem Sinn für Krimskrams und antiquarisches Durcheinander entgegen. Dombrowski kaufte ihm das komplette vierstöckige Gebäude, und im Juni 1991 wurde Brightman’s Attic aus der Taufe gehoben.
    Hier habe Harry zu weinen begonnen, erzählte Tom, und bis zum Ende der Mahlzeit nur noch von Flora gesprochen, von dem letzten qualvollen Tag, den er vor Antritt seiner Gefängnisstrafe mit ihr verbracht hatte. Sie befand sich wieder einmal in einer sehr kritischen Phase, kurz vor Ausbruch des Wahnsinns, der sie schließlich zum dritten Mal in die Anstalt bringen sollte, aber noch war sie so weit beiVerstand, dass sie Harry als ihren Vater erkennen und in zusammenhängenden Sätzen mit ihm reden konnte. Irgendwo war sie auf eine Statistik gestoßen, der zu entnehmen war, wie viele Menschen pro Sekunde auf der Welt geboren werden und sterben. Die Zahlen waren gewaltig, aber in Mathe war Flora immer gut gewesen, und schnell hatte sie die Gesamtmengen in Zehnergruppen umgerechnet: zehn Geburten alle einundvierzig Sekunden, zehn Todesfälle alle achtundfünfzig Sekunden (oder was auch immer die Zahlen ergeben mochten). Das sei die Wahrheit über die Welt, erklärte sie ihrem Vater an jenem Morgen beim Frühstück, und um diese Wahrheit in den Griff zu bekommen, habe sie beschlossen, diesen Tag auf dem Schaukelstuhl in ihrem Zimmer zu verbringen; sie wolle alle einundvierzig Sekunden das Wort
Freude
und alle achtundfünfzig Sekunden das Wort
Trauer
rufen und auf diese Weise das Ableben der zehn Verstorbenen beklagen und die Ankunft der zehn Neugeborenen feiern.
    Harry mochte es schon oft das Herz zerrissen haben, aber jetzt war es nur noch ein Klumpen Asche in seiner Brust. Am letzten Tag in Freiheit saß er zwölf Stunden bei seiner Tochter auf dem Bett und sah zu, wie sie auf ihrem Stuhl vor und zurück schaukelte und abwechselnd
Freude
und
Trauer
rief, während sie den Sekundenzeiger des Weckers auf ihrem Nachttisch nicht aus den Augen ließ. «Freude!», rief sie. «Freude über die zehn, die alle einundvierzig Sekunden zur Welt kommen, kommen werden und gekommen sind. Freut euch über sie und lasst nicht nach. Freut euch unaufhörlich, denn so viel ist sicher, so viel ist wahr, und so viel steht fest: Zehn Menschen leben jetzt, die vorher nicht gelebt haben. Freut euch!»
    Und dann packte sie die Lehnen des Stuhls fester, schaukelte schneller, sah ihrem Vater in die Augen undrief: «Trauer! Trauert um die zehn, die von uns gegangen sind. Trauert um die zehn, deren Leben beendet ist, die ihre Reise ins große Unbekannte angetreten haben. Trauert endlos um die Toten. Trauert um die Männer und Frauen, die schlechte Menschen waren. Trauert um die Alten, deren Körper sie im Stich gelassen haben. Trauert um die Jungen, die vor ihrer Zeit gestorben sind. Trauert um eine Welt, die dem Tod erlaubt, uns aus der Welt zu holen. Trauert!»

ÜBER SCHURKEN
    B is ich Tom in Brightman’s Attic kennen lernte, hatte ich mit Harry höchstens erst zwei- oder dreimal gesprochen – und auch das waren nur flüchtige, kurz angebundene Wortwechsel gewesen. Nachdem ich mir Toms Erzählung von

Weitere Kostenlose Bücher