Die Brooklyn-Revue
«Mach dir um mich mal keine Sorgen, Kleiner.»
Darauf erklärte sie, sie müsse am nächsten Morgen besonders früh aufstehen (Elternsprechtag oder etwas Ähnliches), aber mir entging nicht, dass Toms Aufmerksamkeit sie gerührt hatte, oder jedenfalls bildete ich mir das ein. Dann bekam jeder von ihr einen Kuss zum Abschied. Erst ihr Vater, dann ich einen leichten Tupfer auf die Wange und als Letzter Tom. Und er bekam nicht nur einen Kuss auf die Lippen, sondern wurde auch noch in die Arme genommen – und zwar ausgiebig und deutlich länger, als man in so einer Situation erwarten konnte.
«Gute Nacht zusammen», sagte Honey, ging zur Tür und winkte noch einmal. «Bis morgen.»
Am nächsten Tag kommt sie schon um vier und bringt fünf Hummer, drei Flaschen Champagner und zwei verschiedene Nachspeisen mit. Wieder bereitet unsere außerordentlich talentierte Köchin uns ein Festmahl zu, und da sich nun auch Lucy am Gespräch beteiligt, bestreiten Grundschullehrerin und Grundschülerin einen großen Teil der Konversation während des Essens, indem sie einander die Titel ihrer Lieblingsbücher aufzählen. Al Junior und Al Senior haben sich noch nicht mit meinem Auto blicken lassen, ich verkünde aber trotzdem, dass der Olds repariert sei und uns morgen wieder zur Verfügung stehe. Angesichts der angeregten Gespräche am Tisch verschweige ich die Ursache unserer Panne, um nicht durch Erwähnung einer so unerfreulichen Sache einen Misston in die Stimmung zu bringen. Tom weiß inzwischen Bescheid, aber auch er möchte lieber nichts von dem bösen Streich erzählen, den man uns gespielt hat. Honey und Lucy brechen ihre Hummer auf und singen dazu alberne Lieder, und warum sollte man ihnenmit einer deprimierenden Schilderung von Klassenressentiments und provinziellen Animositäten die gute Laune verderben?
Als ich Lucy nach oben ins Bett bringe, merke ich, dass ich zu erschöpft bin, um den zweiten Abend hintereinander lang aufzubleiben und mit den anderen ein Glas Wein nach dem andern zu kippen. Die Chowders vertragen beide eine ganze Menge, und Tom mit seiner massigen Figur und seinem gewaltigen Durst kann Glas für Glas mit ihnen mithalten, während ich als ausgemergelter ehemaliger Krebspatient nur ein kleines Fassungsvermögen besitze und fürchten muss, am nächsten Morgen mit einem Kater aufzuwachen.
Ich setze mich zu Lucy auf die Bettkante und lese ihr aus Zane Greys Roman vor, bis sie die Augen schließt und einschläft. Als ich nach nebenan auf mein Zimmer gehe, dringt aus dem Speiseraum unten Lachen an mein Ohr. Stanley sagt, er sei «vollkommen erledigt», und dann bemerkt Honey etwas über «das Charlie-Chaplin-Zimmer» und fügt hinzu: «Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee.» Ich kann nur vermuten, worüber sie reden, aber eine Möglichkeit wäre die: Stanley will zu Bett gehen, und Honey hat zu viel getrunken, um noch nach Hause fahren zu können, und will die Nacht im Gasthof verbringen. Wenn ich nicht irre, liegt das Charlie-Chaplin-Zimmer unmittelbar neben dem von Tom.
Ich krieche ins Bett und fange mit der Lektüre von Italo Svevos
Ein Mann wird älter
an. Das ist mein zweiter Svevo-Roman in weniger als zwei Wochen, aber
Zenos Gewissen
hat einen so starken Eindruck auf mich gemacht, dass ich beschlossen habe, alles von diesem Autor zu lesen, was ich in die Finger bekommen kann. Der italienische Originaltitel lautet
Senilità
, genau das richtige Buch für einen alten Knacker wie mich. Ein älterer Mann und seine junge Geliebte. Die Leiden der Liebe. Vereitelte Hoffnungen. Immer nacheinem oder zwei Absätzen lege ich eine Pause ein, denke an Marina Gonzalez und quäle mich mit der Vorstellung, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde. Ich würde jetzt gern masturbieren, widerstehe aber dem Drang, da die rostigen Sprungfedern mich verraten würden. Immerhin schiebe ich gelegentlich eine Hand unter die Decke und fühle nach meinem Schwanz. Nur um mich zu vergewissern, dass er noch da ist, um festzustellen, dass mein alter Freund noch bei mir ist.
Eine halbe Stunde später höre ich Schritte die Treppe hinaufkommen. Zwei Paar Beine, zwei Flüsterstimmen: Tom und Honey. Sie gehen durch den Flur auf mein Zimmer zu, bleiben stehen. Ich spitze die Ohren, um wenigstens etwas von ihrem Gespräch zu erlauschen, aber sie reden so leise, dass nichts zu verstehen ist. Schließlich höre ich Tom «Gute Nacht» sagen, und gleich darauf geht die Tür des Charlie-Chaplin-Zimmers auf und wieder zu. Drei
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