Die Brooklyn-Revue
fünfundsechzig beschleunigt, auf siebzig, und dann wollte ich wieder langsamer werden. Ganz schön schwierig, wenn die Bremsen hinüber sind. Ich kann von Glück sagen, dass ich das überlebt habe.»
«Die Bremsen …»
«Ja, die Bremsen. Ich habe den Wagen wieder in die Werkstatt gebracht und mir das mal angesehen. Der Bremsbelag war praktisch nicht mehr vorhanden, Mr. Glass.»
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Ich sage, ohne dieses andere Problem mit dem Benzintank hätten Sie nichts vom schlimmen Zustand Ihrer Bremsen erfahren. Und wenn Sie damit weiter durch die Gegend gefahren wären, hätten Sie irgendwann ganz großen Ärger bekommen. Einen Unfall. Mit vielleicht tödlichen Folgen. Was weiß ich.»
«Also hat uns der Scheißkerl, der uns die Cola in den Tank gekippt hat, in Wirklichkeit das Leben gerettet.»
«So sieht es aus. Ziemlich verrückt, wie?»
Als die Wilsons in ihrem roten Cabrio davonfahren, zupft Lucy mich am Ärmel.
«Der das getan hat, war kein S-kerl, Onkel Nat», sagt sie.
«S-kerl?», frage ich. «Wovon redest du?»
«Du hast ein unanständiges Wort benutzt. Ich darf so etwas nicht sagen.»
«Ach, verstehe.
S
. S wie Du-weißt-schon.»
«Ja. Ein schlimmes Wort.»
«Du hast Recht, Lucy. Ich sollte nicht so reden, wenn du dabei bist.»
«Du solltest nicht so reden. Punkt. Ob ich dabei bin oder nicht.»
«Da hast du wahrscheinlich Recht. Aber ich war wütend, und wenn man wütend ist, hat man seine Zunge nicht immer unter Kontrolle. Irgendein böser Mann hat versucht, unser Auto kaputtzumachen. Einfach so, ohne Grund. Nur um was Böses zu tun, um uns wehzutun. Entschuldige bitte, dass ich dieses Wort benutzt habe, aber dass ich mich aufrege, kannst du mir nun wirklich nicht zum Vorwurf machen.»
«Das war kein böser Mann. Das war ein böses Mädchen.»
«Ein Mädchen? Woher weißt du das? Hast du es etwa beobachtet?»
Für einige Sekunden verfällt sie wieder in ihr altes Schweigen und beantwortet meine Frage nur mit einem Nicken. Schon treten ihr Tränen in die Augen.
«Warum hast du mir das nicht erzählt?», frage ich. «Wenn du es gesehen hast, hättest du es mir sagen sollen, Lucy. Wir hätten das Mädchen fangen und ins Gefängnis bringen können. Und wenn die Männer in der Werkstatt gleich gewusst hätten, wo das Problem zu suchen war, hätten sie das Auto viel schneller reparieren können.»
«Ich hatte Angst», sagt sie und senkt den Kopf, weil sie mir nicht in die Augen sehen kann. Die Tränen laufen ihr jetzt in Strömen über die Wangen, und ich sehe sie unten auf den Boden tropfen – salzige Vergänglichkeiten, glitzernde Kügelchen, die im Augenblick dunkel werden und im Staub verschwinden.
«Angst? Wovor solltest du Angst haben?»
Statt auf meine Frage zu antworten, schlingt sie ihren rechten Arm um mich und birgt ihr Gesicht an meinen Rippen. Ich streiche ihr übers Haar, und als ich ihren Körper an meinem beben spüre, begreife ich plötzlich, was sie mir zu sagen versucht hat. Ein Schock durchzuckt mich, Zorn steigt siedend in mir auf, verebbt aber wieder und legt sich ganz. Der Zorn weicht Mitleid, und ich weiß, wenn ich jetzt zu schimpfen anfange, verliere ich sie vielleicht für immer.
«Warum hast du das getan?», frage ich.
«Es tut mir so Leid», sagt sie, umklammert mich noch fester und heult in mein Hemd. «Es tut mir so furchtbar Leid. Aber ich bin irgendwie durchgedreht, Onkel Nat, ich hab kaum gewusst, was ich tue, und dann war’s auch schon passiert. Mama hat mir von Pamela erzählt. Sie ist ein schlechter Mensch, und ich wollte da nicht hin.»
«Ich weiß nicht, ob sie schlecht ist oder was, aber es ist ja nochmal gut ausgegangen. Was du getan hast, war falsch, Lucy. Das war sehr schlimm, und ich möchte, dass du so etwas nie wieder tust. Aber dieses Mal – dieses eine Mal – hat sich das Falsche als das Richtige herausgestellt.»
«Wie kann was Falsches etwas Richtiges sein? Da könnte man auch sagen, ein Hund ist eine Katze, oder eine Maus ist ein Elefant.»
«Hast du schon vergessen, was Al Junior uns von den Bremsen erzählt hat?»
«Nein, das weiß ich doch. Ich habe dir das Leben gerettet, oder?»
«Und dir selbst. Und Onkel Tom.»
Endlich löst sie sich von meinem Hemd, wischt sich die Tränen aus den Augen und sieht mich lange und nachdenklich an. «Sag Onkel Tom bitte nichts davon, ja?»
«Warum nicht?»
«Weil er mich dann nicht mehr gern hat.»
«Aber nein.»
«Doch, bestimmt. Und ich will, dass er
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