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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Tages wieder fahrbereit. Wenn er und sein Vater am Abend Zeit haben, kommen sie mit zwei Autos zu uns auf den Hügel und liefern mir den Cutlass persönlich ab. Falls nicht, kann ich morgen früh mit ihnen rechnen. Ich frage gar nicht erst, was die Reparatur kosten wird. Ich bin mit den Gedanken noch in Jugoslawien und denke an die Schrecken von Sarajewo und im Kosovo, an die zu Tausenden hingeschlachteten Unschuldigen, die aus keinem anderen Grund als dem gestorben sind, dass sie angeblich anders waren als die Leute, von denen sie umgebracht wurden.
     
    Finstere Gedanken verfolgen mich bis zum Mittagessen, ich gehe allein auf dem Anwesen spazieren und überlasse Tom und Lucy sich selbst. Es ist der einzige Schatten, der auf meinen Aufenthalt im Chowder Inn fällt, aber an diesemMorgen ist alles schief gegangen, und plötzlich fühle ich mich von allen Seiten in die Zange genommen. Lucys Zugeknöpftheit, ihre Ausflüchte; die wachsende Sorge um ihre Mutter; der böse Anschlag auf mein Auto; die unaufhörlichen Grübeleien über Gemetzel in fernen Ländern – das alles schießt mir in den Kopf und erinnert mich daran, dass es vor dem Elend der Welt kein Entrinnen gibt. Nicht einmal auf dem abgelegensten Hügel im hintersten Vermont. Nicht einmal hinter den verschlossenen Türen und Toren einer heilen Zuflucht, wie das Hotel Existenz sie uns vorspiegelt.
    Ich suche nach Gegenargumenten, nach einem Gedanken, der das Gleichgewicht wiederherstellen könnte, und komme schließlich auf Tom und Honey. Noch ist nichts sicher, aber beim Essen am Abend zuvor habe ich eine merkliche Entkrampfung seines Verhaltens ihr gegenüber wahrgenommen. Honey bekniet ihren Vater seit Jahren, von hier fortzuziehen, und als Stanley ihr erzählte, dass wir möglicherweise am Kauf dieses Hauses interessiert seien, hob sie ihr Glas und trank auf unser Wohl. Dann wandte sie sich an Tom und fragte ihn, was um alles in der Welt ihn dazu treibe, sein Leben in der Stadt gegen eins in einem Kaff wie diesem zu vertauschen. Statt sie mit einer scherzhaften Antwort aufzuziehen, gab er eine ausführliche und abgewogene Erklärung ab; im Wesentlichen wiederholte er die Argumente, die er Harry bei unserem Essen in der Smith Street in Brooklyn vorgetragen hatte, jedoch viel beredter als an jenem Abend – immer drängender, immer eindringlicher, je tiefer er sich in seine Verzweiflung über die Zukunft Amerikas hineinsteigerte. Tom in geistsprühender Hochform. Honey schaute ihn über den Tisch hinweg an, und als ich Tränen in ihre Augen treten sah, hatte ich keine Zweifel mehr, dass Stanleys dralle, großherzige Tochter in Liebe zu meinem Neffen entflammt war.
    Aber was war mit Tom? Ich bemerkte zwar, dass er inzwischen Notiz von ihr nahm, nicht mehr so reserviert und aggressiv mit ihr sprach – aber was hatte das zu bedeuten? Es konnte auf zunehmendes Interesse hindeuten, aber ebenso gut konnten es einfach seine guten Manieren sein.
    Eine kurze Szene vom Ende des Abends. Ich will sie als letztes Beweisstück vorlegen, egal, ob sie die Frage beantwortet oder nicht.
    Als wir mit der Nachspeise fertig waren, lag Lucy bereits oben im Bett; die vier am Tisch verbliebenen Erwachsenen waren alle leicht angetrunken. Stanley schlug eine Runde Poker vor, in aller Freundschaft, versteht sich; er mischte die Karten, sprach von seinem neuen Leben in den Tropen (bei Sonnenuntergang am weißen Strand unter einer Palme sitzen, einen Rumcocktail in der einen Hand, eine Montecristo in der anderen, und dem Auf und Ab der Brandung zuschauen) und zeigte uns beim Poker, was eine Harke ist: Er gewann drei Viertel aller Spiele, die wir machten. Was hätte ich nach der Abreibung, die er mir am Nachmittag beim Tischtennis verpasst hatte, auch anderes erwarten können? Der Mann schien in jedem Fach zu glänzen, und Tom und Honey lachten über ihre Ungeschicktheit und setzten immer verrücktere Beträge, während Stanley uns ein ums andere Mal ausmanövrierte. Ihr Lachen hatte für mich etwas Komplizenhaftes, und während ich die beiden jungen Leute hinter meinen Karten versteckt beobachtete, nahm ich mir bewusst vor, nicht darin einzustimmen. Als das Spiel zu Ende ging, sagte Tom etwas, das mich überraschte. «Fahr nicht nach Brattleboro zurück», sagte er zu Honey. «Wir haben schon nach Mitternacht, und du hast zu viel getrunken.»
    Einfach gute Manieren – oder ein raffinierter Trick, sie ins Bett zu locken?
    «Ich finde den Weg mit geschlossenen Augen», antwortete Honey.

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