Die Brooklyn-Revue
Talent. Während der gesamten Feier sagte sie kein einziges Wort, stand schweigend unter uns, als einige kurze Reden über Harry gesprochen wurden und Tom den Kasten aufmachte und die Asche auf den Boden streute. Damit schien unser Unternehmen beendet, doch ehe wir uns zum Gehen wandten, schob sich ein dicker schwarzer Junge aus dem Gebüsch hervor und trat auf uns zu. Er hielt einen C D-Player in seinen ausgestreckten Armen, den er wie eine Krone auf einem Samtkissen vor sich her trug. Der Junge, der sich später als Rufus’ Vetter entpuppte, stellte den Ghettoblaster vor Tina auf den Boden und drückte einen Knopf. Jetzt öffnete Tina den Mund, und als die ersten Takte Orchestermusik aus den Lautsprechern drangen, bewegte sie die Lippen zu dem nun anhebenden Gesang. Nach wenigen Sekunden erkannte ich die Stimme von Lena Horne, sie sang «Can’t Help Lovin’ That Man» aus
Show Boat
. So trat Tina Hott auch bei ihren samstagabendlichen Nachtclubvorstellungen auf: nicht als Sängerin, sondern als Playbacksängerin, die zu den Shownummern und Jazzstandards legendärer Sangeskünstlerinnen die Lippen bewegte. Das war ebenso großartig wie absurd. Lustig und herzzerreißend. Rührend und komisch. Es war alles, was es war, und alles, was es nicht war. Und dann Tina, wie sie die Arme bewegte, als schmettere sie tatsächlich dieses Lied. Ihre Miene drückte nichts als Zärtlichkeit und Liebe aus. In ihren Augen standen Tränen, und wir alle verharrten wie gebannt an Ort und Stelle und wussten nicht, ob wir mit ihr weinen oder lachen sollten. Für mich war das einer der seltsamsten, erhabensten Augenblicke meines Lebens.
Fish gotta swim and birds gotta fly
I gotta love one man ’til I die …
Am Abend stieg Rufus in ein Flugzeug und flog nach Jamaika zurück. Nach allem, was ich weiß, ist er nie mehr nach New York gekommen.
WEITERE ENTWICKLUNGEN
T om war ziemlich durcheinander. In einem so kurzen Zeitraum war so viel passiert, dass er mit der Fülle der Möglichkeiten, die sich ihm eröffnet hatten, zunächst gar nichts anzufangen wusste. Wollte er Harrys Geschäft übernehmen, den Rest seiner Tage in einem Laden in Park Slope sitzen und mit antiquarischen Büchern handeln? Oder sollte er, wie er am Abend von Harrys Tod vorgeschlagen hatte, das Ganze einfach verkaufen und den Erlös mit Rufus teilen? Dass Rufus seinen Verzicht auf das Geld erklärt hatte, spielte keine große Rolle. Das Gebäude war von beträchtlichem Wert, und wenn Rufus den ihm zustehenden Anteil partout nicht haben wollte, würde Tom dafür sorgen, dass seine Großmutter es für ihn annahm. Aus dem Verkauf war ein enormer Geldbetrag zu erwarten, mehrere hunderttausend Dollar für jeden der beiden, und mit seinem Anteil wäre Tom in der Lage, sein Leben von Grund auf neu zu gestalten und jede nur erdenkliche Richtung einzuschlagen. Aber was wollte er eigentlich? Das war die große Frage, und fürs Erste war es die einzige Frage, die unbeantwortet blieb. Wollte Tom vielleicht doch noch die Idee des Hotels Existenz verwirklichen? Oder würde er lieber auf seinen ursprünglichen Plan zurückkommen und sich nach einem Job als Englischlehrer an einer High School umsehen? Und wenn ja: wo? Wollte er in New York bleiben, oder wollte er mit allem Schluss machen und aufs Land ziehen? Immer wieder in den folgenden Tagen sprachen wir diese Angelegenheiten durch, aber abgesehen davon, dasser sein winziges Apartment aufgab und sich vorübergehend in Harrys Wohnung über dem Laden niederließ, blieb Tom bei seinem Zaudern, Grübeln und Hadern. Zum Glück stand er nicht unmittelbar unter Entscheidungsdruck. Harrys Testament befand sich erst am Anfang des mühsamen Wegs zur gerichtlichen Bestätigung, und bis den Erben die Besitzurkunde für das Gebäude ausgehändigt wurde, würden noch Monate vergehen. Auch Harrys andere Vermögenswerte – sein mageres Bankkonto, ein paar Aktien und Anleihen – waren vorläufig eingefroren. Tom saß auf einem Haufen Gold, aber solange die Anwälte der Kanzlei Flynn, Bernstein & Vallaro mit der Abwicklung von Harrys Vermächtnis beschäftigt waren, ging es ihm tatsächlich sogar schlechter als vorher. Die wöchentlichen Lohnzahlungen fielen jetzt weg, und nur wenn er Brightman’s Attic am Laufen hielt, konnte er überhaupt mit irgendwelchen Einnahmen rechnen. Ich bot an, ihm Geld zu leihen, aber davon wollte er nichts wissen. Ebenso wenig sagte ihm mein Vorschlag zu, er solle den Laden den Sommer über schließen und mit
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