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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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mir und Lucy erst einmal ausgiebig Urlaub machen. Er sei es Harry schuldig, das Antiquariat am Leben zu erhalten, sagte er. Das sei eine moralische Schuld, er fühle sich verpflichtet, die Sache bis zum Ende durchzustehen. Gut, sagte ich. Aber wie willst du den Laden ganz allein halten? Rufus ist nicht mehr da, das heißt, du hast keinen Verkäufer. Und du kannst es dir nicht leisten, einen neuen einzustellen. Wovon willst du ihn bezahlen?
    Zum ersten Mal in all den Jahren, die ich ihn kannte, geriet Tom in Zorn. «Scheiß drauf, Nathan», sagte er. «Ist doch völlig egal. Mir fällt schon was ein. Kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten, okay?»
    Aber Toms Angelegenheiten waren auch meine, und es schmerzte mich, ihn in solchen Schwierigkeiten zu sehen.Daher bot ich ihm nun selbst meine Dienste an – zum symbolischen Lohn von einem Dollar im Monat. Ich könnte für Rufus einspringen, sagte ich, und meinen Ruhestand bis auf weiteres aussetzen, um die zeitraubende Arbeit eines Verkäufers in Brightman’s Attic zu übernehmen. Wenn Tom daran gelegen sei, würde ich ihn auch gern mit Boss anreden.
    Und so begann eine neue Epoche in unserem Leben. Ich meldete Lucy für ein Sommercamp der Berkeley Carroll School am Lincoln Place an, und jeden Morgen, nachdem ich sie die siebeneinhalb Blocks von meiner Wohnung zum Camp begleitet hatte, schlenderte ich zurück und nahm meinen Platz an der Ladenkasse ein. Die Arbeit an meinem
Buch menschlicher Torheiten
litt natürlich unter diesem veränderten Tagesablauf, dennoch machte ich weiter, so gut es ging, schrieb spätabends, wenn Lucy sich schlafen gelegt hatte, und wenn im Geschäft nichts los war, konnte ich auch die eine oder andere Viertelstunde zum Schreiben abzweigen. Zu meinem großen Bedauern fiel das tägliche Mittagessen mit Tom jetzt flach. Es war einfach keine Zeit mehr für ausgiebige Mahlzeiten im Sitzen, und so lebten wir fortan aus der Tüte, aßen unsere Sandwiches und tranken unseren Eiskaffee in der stickigen Enge des Antiquariats, verputzten das alles in wenigen Minuten. Um vier Uhr befreite mich Tom von meinen Pflichten hinter der Kasse, damit ich Lucy abholen konnte. Dann brachte ich sie in den Laden, und bis wir um sechs Uhr zumachten, vertrieb sie sich die Zeit mit der Lektüre irgendeines der viertausendzweihundert Bücher, die in den Regalen des Geschäfts zum Verkauf standen.
    Lucy blieb mir ein Rätsel. In vieler Hinsicht war sie ein Musterkind, und je besser wir uns kennen lernten, desto mehr mochte ich sie, desto lieber hatte ich sie in meinerNähe. Von dem Rätsel, das ihre Mutter mir aufgab, einmal abgesehen, gab es über unser Mädchen tausend positive Dinge zu sagen. Vollkommen unbekannt mit dem Großstadtleben, passte sie sich der neuen Umgebung schnell an und fühlte sich nahezu im Handumdrehen in unserem Viertel zu Hause. Wo auch immer Carolina Carolina liegen mochte, die einzige Sprache, die dort gesprochen wurde, war Englisch. Jetzt aber drangen, wenn wir bei unseren Spaziergängen auf der Seventh Avenue an der chemischen Reinigung vorbeikamen, am Lebensmittelladen, an der Bäckerei, am Schönheitssalon, am Zeitungskiosk, am Coffeeshop, alle möglichen verschiedenen Sprachen auf sie ein. Sie hörte Spanisch und Koreanisch, Russisch und Chinesisch, Arabisch und Griechisch, Japanisch, Deutsch und Französisch, doch statt sich davon einschüchtern oder verwirren zu lassen, frohlockte sie über diese Vielfalt menschlicher Töne. «So möchte ich auch reden können», sagte sie eines Morgens, als wir an einer offenen Haustür vorbeigingen und Zeuge wurden, wie eine dicke kleine Frau einen alten Mann anschrie.
«Mira! Mira! Mira!»,
äffte Lucy die Frau mit unheimlicher Treffsicherheit nach.
«Hombre! Gato! Sucio!»
Eine Minute später kopierte sie ganz ähnlich einen Mann, der jemandem auf der anderen Straßenseite etwas auf Arabisch zurief – Worte, die ich nicht hätte aussprechen können, und wenn es um mein Leben gegangen wäre. Die Kleine hatte ein feines Gehör, sie hatte Augen, mit denen sie sehen, einen Kopf, mit dem sie denken, und ein Herz, mit dem sie fühlen konnte. Im Camp hatte sie keine Schwierigkeiten, Freunde zu finden, und schon am Ende der ersten Woche war sie von drei verschiedenen Mädchen zum Spielen nach Hause eingeladen worden. Sie schreckte nicht vor meinen Gutenachtküssen und Umarmungen zurück; sie mäkelte nie am Essen herum; sie machte überhauptfast nie große Umstände. Trotz ihrer oftmals

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