Die Brooklyn-Revue
fragt, ob er ihm irgendwie helfen kann – und kam dann auf tausend selbstlose Wohltaten zu sprechen, die Harry ihm in den vergangenen drei Jahren erwiesen hatte, insbesondere, dass er ihm Arbeit angeboten hatte, aber auch, dass er ihm die Kostüme und den Schmuck gekauft hatte, die er für seine Auftritte als Tina Hott benötigte, ganz zu schweigen von Harrys nie nachlassender Großzügigkeit, wenn es um Arztrechnungen ging, und seiner Bereitschaft, die teuren Medikamente zu bezahlen, die Rufus am Leben erhielten. Gab es jemals einen besseren Menschen als Harry Brightman?, fragte er. Nicht dass er wüsste, beantwortete er seine Frage selbst und brach zum zigsten Mal an diesem Abend in Tränen aus.
«Du hast überhaupt keine Wahl», sagte Tom, indem er endlich aus seinem betäubten Schweigen erwachte. «Ob du hier bleibst oder nicht, das Geld gehört uns beiden. Wir sind Partner, und ich werde deinen Anteil auf gar keinen Fall für mich behalten. Halbe-halbe, Rufus. Wir teilen alles ganz genau auf.»
«Du brauchst mir nur das Geld für meine Medikamente zu schicken», flüsterte Rufus. «Mehr will ich nicht.»
«Wir verkaufen das Haus und den Laden», sagte Tom. «Wir versilbern alles und teilen uns den Ertrag.»
«Nein, Tommy», sagte Rufus. «Das kannst du alles behalten. Du bist so clever, Mann, du kannst reich werden, wenn du hier weitermachst. Für mich ist das nichts. Ich kenn mich mit Büchern nicht aus. Ich bin doch bloß einFreak, Mann, ein kleiner farbiger Freak, der hier nicht hingehört. Ein Mädchen im Körper eines Jungen. Ein sterbender Junge, der nur noch nach Hause will.»
«Du wirst nicht sterben», sagte Tom. «Du bist doch bei guter Gesundheit.»
«Wir alle sterben, mein Freund», sagte Rufus und zündete sich den nächsten Joint an. «Nimm das nicht so schwer. Ich seh das gelassen, Mann. Meine Oma wird gut für mich sorgen. Denk nur dran, mich ab und zu mal anzurufen, okay? Versprich mir das, Tommy. Wenn du meinen Geburtstag vergisst, verzeih ich dir das nie.»
Als ich dem Disput der beiden jungen Männer zuhörte, geriet ich selbst ein wenig aus der Fassung. Es war nicht meine Art, Gefühle offen zu zeigen, aber ich war immer noch aufgewühlt von dem Gespräch mit Dryer, das mir viel mehr abverlangt hatte als erwartet. Ich hatte für die Konfrontation die Rolle des harten Burschen angenommen und meine Stimme rau und böse gemacht, sodass ich mich angehört haben musste wie ein Ganove aus einem alten B-Movie . Natürlich hatte Dryer nichts anderes verdient, aber bis mir die Worte aus dem Mund gekommen waren, hatte ich gar nicht gewusst, dass ich zu solcher Grobheit, zu solcher Brutalität überhaupt fähig war. Und jetzt, nur wenige Minuten nach diesem Telefonat, saß ich wieder oben in der Wohnung und musste mitanhören, wie Rufus Sprague genau die Dinge von sich wies, die Dryer Harry hatte wegnehmen wollen. Der Kontrast war zu krass, zu überwältigend, als dass mich der Unterschied zwischen diesen beiden Männern nicht bewegen konnte. Und doch hatte Harry beide geliebt, hatte mit derselben hilflosen Leidenschaft, mit derselben bedingungslosen Hingabe jedem der beiden die Treue gehalten. Wie war so etwas möglich?, fragte ich mich. Wie konnte jemand bei der Beurteilung eines Menschen so vollkommenfalsch liegen und gleichzeitig den wahren Charakter eines anderen so klar erkennen? Rufus war erst sechs- oder siebenundzwanzig Jahre alt. Äußerlich glich er einem exotischen Wesen von einem fremden Planeten; mit seinem kleinen, makellosen Kopf, seinem honigbraunen Gesicht und seinen langen, schlanken Gliedmaßen war er der Inbegriff des Schwächlings, des Weichlings, des Schwulen. Aber er hatte auch etwas Kämpferisches, einen ungewöhnlichen Idealismus, etwas, das sich den Eitelkeiten und Wünschen widersetzte, die uns andere für die Versuchungen der Welt so anfällig machen. In seinem Interesse hoffte ich, dass er sich die Sache mit der Erbschaft noch einmal überlegen würde. Ich hoffte, er würde doch noch anfangen, wie wir anderen zu denken, und das Vermögen annehmen, das man ihm vermacht hatte, aber als Tom auch nach zwei Stunden mit seinen Argumenten nicht zu ihm durchgedrungen war, stand für mich fest, dass es nie dazu kommen würde.
Am nächsten Tag erledigten wir die praktischen Dinge. Harrys Freunde mussten angerufen werden (das übernahm Rufus), Bette in Chicago und Buchhändlerkollegen in New York mussten angerufen werden (das übernahm Tom), Bestattungsunternehmen in
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