Die Brooklyn-Revue
Brooklyn mussten angerufen werden (das übernahm ich). In seinem Testament hatte Harry verfügt, dass sein Leichnam verbrannt werden sollte, aber was mit der Asche geschehen sollte, hatte er nicht gesagt. Nach langwieriger Diskussion einigten wir uns darauf, sie zwischen den Bäumen des Prospect Park zu verstreuen. In New York City ist es nicht erlaubt, die Asche von Toten an öffentlichen Orten auszubringen, aber wir nahmen an, wenn wir uns unauffällig an eine abgelegene, selten besuchte Stelle zurückzögen, würde uns schon niemand bemerken. Die Rechnung für die Einäscherung von Harrys sterblichen Überresten und den Metallbehälter für dieAsche belief sich auf etwas über fünfzehnhundert Dollar. Da sonst niemand etwas dazu beitragen konnte, beglich ich den Betrag vollständig aus meiner Tasche.
Am Nachmittag der kleinen Feier – Sonntag, der 11. Juni – ließ ich Lucy bei einem Babysitter und ging mit Tom in den Park; er trug den Kasten mit der Asche in einer grünen Einkaufstüte, die mit dem Logo von Brightman’s Attic bedruckt war. Das Wetter war schon seit Beginn des Wochenendes furchtbar gewesen, schwül und drückend, sechsunddreißig Grad, hohe Luftfeuchtigkeit und erbarmungslose Sonne, aber am Sonntag war es am schlimmsten, das war einer dieser Tage, an denen man kaum Luft bekommt, an denen New York zum Vorposten tropischer Dschungel wird, zum heißesten, stinkendsten Ort der Welt. Jede Bewegung führte zu heftigen Schweißausbrüchen.
Wahrscheinlich lag es am Wetter, dass nur so wenige kamen. Harrys Manhattaner Freunde waren lieber in ihren klimatisierten Wohnungen geblieben, daher setzte sich unsere Schar nur aus einigen wenigen Getreuen aus seinem Viertel zusammen. Dazu zählten drei oder vier Ladeninhaber aus der Seventh Avenue, der Betreiber von Harrys Stammlokal und die Frau, die ihm die Haare geschnitten und gefärbt hatte. Nancy Mazzucchelli war natürlich da, ebenso ihr Mann, der falsche James Joyce, besser bekannt als Jim oder Jimmy. Ich sah ihn bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal und muss leider vermelden, dass er keinen vorteilhaften Eindruck auf mich machte. Er war groß und attraktiv, wie Tom ihn angekündigt hatte, beschwerte sich aber unablässig über die Hitze und die Mückenschwärme im Park, was ich für ebenso kindisch wie egoistisch hielt, zumal er gekommen war, um einem Mann die letzte Ehre zu erweisen, der nicht mehr das Vergnügen hatte, sich über irgendetwas beschweren zu können.
Aber egal. An diesem Tag war nur eins wichtig, und das hatte weder mit Nancys Mann noch mit dem Wetter zu tun. Sondern einzig und allein mit Rufus, der mit zwanzig Minuten Verspätung – wir anderen hatten uns längst versammelt – in das von Mücken wimmelnde Gebüsch geschritten kam, als wir die Feier gerade ohne ihn beginnen wollten. Inzwischen war die vorherrschende Meinung die, dass er gekniffen hatte, dass die Aussicht, Harry als ein Häuflein Asche sehen zu müssen, zu viel für ihn gewesen und er dieser Prüfung nicht gewachsen war. Nichtsdestotrotz übten wir uns in Geduld, standen in der dicken, erstickenden Luft, wischten uns die Gesichter und sahen immer wieder auf unsere Armbanduhren in der Hoffnung, dass wir uns in ihm getäuscht hatten. Als er dann endlich kam, dauerte es einige Sekunden, bis wir ihn überhaupt erkannten. Nicht Rufus Sprague hatte sich uns zugesellt, sondern Tina Hott – und die Verwandlung war so radikal, so faszinierend, dass ich hinter mir wahrhaftig jemanden aufstöhnen hörte.
Er war eine der schönsten Frauen, die ich jemals gesehen hatte. Von Kopf bis Fuß wie eine Witwe gekleidet – enges schwarzes Kleid, schwarze Stöckelschuhe, schwarzer Pillboxhut mit feinem schwarzem Schleier –, war er zur Inkarnation absoluter Weiblichkeit geworden, zu einer Idee des Weiblichen, die alles übertraf, was im Reich natürlicher Fraulichkeit existierte. Die kastanienbraune Perücke sah aus wie echtes Haar; die Brüste sahen aus wie echte Brüste; das Make-up war mit Können und Präzision aufgetragen; und Tinas Beine waren so lang und so herrlich anzuschauen, dass man unmöglich glauben konnte, dass sie einem Mann gehörten.
Aber die Wirkung, die sie hervorrief, beruhte auf mehr als nur Äußerlichkeiten, mehr als nur Kleidern, Perückenoder Schminke. Das Weibliche leuchtete auch von innen aus ihr heraus, und Tinas würdevolle Trauerhaltung war die perfekte Verkörperung schmerzbewegter Witwenschaft, der Auftritt einer Schauspielerin von enormem
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