Die Bruderschaft der Runen
konnten. Wie also erklärte sich der zweite Traum? Und wie konnte es sein, dass die Alte davon wusste?
Ein kalter Schauer rann über Marys Rücken. Die dunklen Türme und Mauern von Burg Ruthven kamen ihr plötzlich noch unheimlicher und bedrohlicher vor. Etwas ging hier vor sich – oder bildete sie sich das nur ein? Wenn es so war, dann war sie in dem Augenblick, als sie nach Ruthven gekommen war, ein Teil davon geworden. Genau davor hatte die seltsame Alte sie gewarnt.
Von einem uralten Schicksal hatte die Dienerin gesprochen und von großer Gefahr. Nicht, dass Mary sich gefürchtet hätte, aber die Sache kam ihr sonderbar vor, und ihre Traurigkeit und die Verwunderung über den Besuch der Alten vermischten sich zu einer vagen Ahnung drohenden Unheils.
Es war spätnachts.
Dunkelheit hatte sich über Burg Ruthven gesenkt, und die Kälte der Nacht kroch durch die Gänge des alten Gemäuers. Längst hatten sich die Herren der Burg zur Ruhe begeben, und auch das Gesinde hatte sich schlafen gelegt.
Mary of Egton jedoch war noch wach.
Zum einen, weil ihr zu viel im Kopf herumging, als dass sie ein Auge hätte zutun können. Zum anderen aber auch, weil sie Angst davor hatte, einzuschlafen und erneut von Träumen heimgesucht zu werden, die auf seltsame Weise wirklich zu sein schienen.
Den ganzen Tag über hatte sie nach einer zufrieden stellenden Erklärung dafür gesucht, dass die junge Frau aus ihrem Traum einst wirklich gelebt hatte. Irgendwann war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie Gwynneths Namen wohl aufgeschnappt haben musste und er sich in ihrer Erinnerung festgesetzt hatte. Andererseits ließ diese Erklärung etliche Fragen offen. Weshalb zum Beispiel hatte Mary in Gegenwart der alten Dienerin die gleiche innere Unruhe ergriffen, die Gwynneth Ruthven im Traum verspürt hatte? War es bloßer Zufall oder mehr als das? Gab es tatsächlich eine Verbindung, die über die Abgründe der Zeit hinweg Bestand hatte?
Trotz ihres scharfen Verstandes verfügte Mary über eine ausgeprägte Fantasie, die sich in literarischen Welten stets zu Hause gefühlt hatte. Unwillkürlich fragte sie sich, was Sir Walter, den sie als Mann der Vernunft und des rationalen Urteils kennen gelernt hatte, wohl zu alledem gesagt hätte.
Vielleicht, und dieser Gedanke erschreckte sie, hatte sie sich die Begegnung mit der Alten ja nur eingebildet? Womöglich war sie bloß ein Spuk aus Marys Erinnerungen, und Traum und Wirklichkeit stimmten deshalb auf so verblüffende Weise miteinander überein, weil es keinen Unterschied zwischen ihnen gab?
Was, wenn sie einfach nur einen lebhaften Tagtraum gehabt hatte? Wenn ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit dazu geführt hatten, dass sie Traumgespinste und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden vermochte? Sie war still und verschlossen geworden, lebte zurückgezogen in ihrem Gemach. War sie dabei, den Verstand zu verlieren?
Mary of Egton fühlte Panik in sich aufsteigen, weil ihre Vernunft ihr sagte, dass dies die einzig plausible Erklärung war. Vielleicht waren die jüngsten Geschehnisse einfach zu viel für sie gewesen. Möglicherweise war sie krank und brauchte Hilfe, aber wer konnte ihr in dieser misslichen Lage beistehen?
Ein verhaltenes Pochen gegen die Tür ihres Schlafgemachs riss sie jäh aus ihren Gedanken.
Mary, die ohnehin hellwach gewesen war, fuhr von ihrem Lager hoch. Sie hatte keine Kerze entzündet. Das Mondlicht, das durch das hohe Fenster fiel, beleuchtete das Gemach hinreichend mit kaltem, bläulichem Schein.
Wieder klopfte es, fordernder diesmal. Wer mochte das sein? Im ersten Schrecken dachte Mary daran, dass es die Alte aus dem Traum sein könnte, die vor der Tür stand, um sie aufs Neue heimzusuchen und diesmal ihren Verstand einzufordern. Aber es war keine Frau, die dort draußen stand, sondern ein Mann, wie Mary im nächsten Moment klar wurde …
»Mary? Ich weiß, dass Sie noch nicht schlafen. Bitte öffnen Sie die Tür, ich muss mit Ihnen sprechen.«
Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, als sie Malcolm of Ruthvens Stimme erkannte. Was mochte der Laird von ihr wollen, zu so später Stunde? Seit ihrer Aussprache in der Kutsche hatten sie kaum mehr miteinander geredet. Was zu sagen gewesen war, war gesagt worden, darüber hinaus schien den Herrn von Ruthven nichts zu interessieren, was mit ihr zusammenhing – und nun stand er in dunkler Nacht vor ihrer Tür und begehrte Einlass?
Sie schlug die Decke zurück, erhob sich aus dem Bett und zog den seidenen
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