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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Seele.
    Unwillkürlich fragte sich Mary, wie jemand diesen tristen, verlassenen Flecken Erde seine Heimat nennen konnte. Aber dann musste sie wieder an ihre Träume denken, an die herbe Schönheit der Highlands und die Verbundenheit, welche die Menschen, die hier lebten, ihrem Land gegenüber empfanden. Mary beneidete sie.
    Eine Heimat hatte sie nie kennen gelernt, auch nicht in Egton, wo sie zwar zu Hause gewesen war, sich angesichts all der Zwänge und Pflichten ihres Standes aber nie wohl gefühlt hatte. Und schon gar nicht hier in Ruthven, wo man sie nur als zierendes Beiwerk betrachtete, das dem Manne ergeben sein, ansonsten aber schweigen sollte. Im Grunde, dachte Mary, war jeder Tagelöhner, der dort draußen auf den Feldern arbeitete, freier als sie, die in dieser Burg festgehalten wurde.
    Ohne Aussicht auf Änderung.
    Niemals …
    Sie hatte viel geweint in den letzten Tagen, aber irgendwann waren ihre Tränen versiegt und purer Bitterkeit gewichen, die nach und nach alles absterben ließ, was Mary einst zu einer lebensfrohen jungen Frau gemacht hatte. Mit ihren Büchern hatte man ihr die Kraft genommen. Sie welkte dahin wie eine vertrocknende Blume.
    Als es verhalten an die Tür ihres Gemachs klopfte, zuckte Mary zusammen. Hatte sie nicht gesagt, dass sie nicht gestört zu werden wünschte?
    Es klopfte abermals.
    »Ja?«, rief Mary ein wenig unwirsch. Ihr stand nicht der Sinn nach Gesellschaft.
    »Herrin«, drang es gedämpft von der anderen Seite, »bitte öffnen Sie die Tür. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    Es war die Stimme einer alten Frau, und auf geheimnisvolle Weise konnte Mary sich ihr nicht entziehen. Sie trat vom Fenster zurück und ging zur Tür, zog den Riegel zurück und öffnete.
    Draußen stand die alte Dienerin, jene Frau, die in ihrem schwarzen Kleid und dem schlohweißen Haar einen so unheimlichen Anblick bot und die Mary gleich nach ihrer Ankunft auf Burg Ruthven gewarnt hatte. Fast hatte Mary sie vergessen. Nun erinnerte sie sich wieder an sie, und ihr wurde klar, dass sie sie in der Zwischenzeit nicht mehr in der Burg gesehen hatte.
    »Was willst du?«, erkundigte sich Mary unsicher. Die Alte erinnerte sie an jemanden …
    »Darf ich hereinkommen, Mylady? Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    Mary zögerte. Weder war ihr nach Gesellschaft zu Mute, noch stand ihr der Sinn nach einer Unterhaltung. Aber etwas an der Art, wie die Alte um Einlass gebeten hatte, deutete an, dass sie sich nicht abweisen lassen würde.
    Mary nickte, und die alte Frau, deren wacher Blick und forscher Gang so gar nichts von einer Dienerin hatten, trat in ihr Gemach.
    »Man sieht Sie selten in den letzten Tagen, Mylady«, stellte sie fest.
    »Ich hatte zu tun«, erklärte Mary kühl. »Es gab einige Dinge, über die ich nachdenken musste.«
    »Nachzudenken lohnt sich immer.« Die alte Frau kicherte. »Es fragt sich allerdings, ob Sie über die richtigen Dinge nachdenken.«
    »Was soll das heißen?«
    »Denken Sie noch an meine Worte? An die Warnung, die ich ausgesprochen habe?«
    »Du sagtest, dass ich Ruthven so schnell wie möglich verlassen solle. Dass fürchterliche Dinge geschehen und dass Vergangenheit und Zukunft sich begegnen würden.«
    »Dies ist geschehen«, behauptete die Alte und blickte Mary unverwandt an – und plötzlich war Mary klar, an wen die Dienerin sie erinnerte.
    In dem seltsamen Traum, den sie gehabt hatte, nach dem Eleonore of Ruthven ihre Bücher verbrannt hatte, war ihr ein Runenweib erschienen – und dieses Runenweib hatte genauso ausgesehen wie diese alte Frau. Oder war es umgekehrt gewesen? Hatte die alte Dienerin Mary bei ihrer ersten Begegnung so beeindruckt, dass sie ihr im Traum wieder begegnet war? Natürlich, sagte sich Mary, so musste es gewesen sein …
    »Was ist mit Ihnen, Herrin?«, fragte die Alte.
    »Nichts. Es ist nur … Du erinnerst mich an jemanden.«
    »Tatsächlich?« Die Dienerin lachte wieder – das Lachen des Wissenden gegenüber einem ahnungslosen Toren. »Möglicherweise, Mary of Egton, erinnere ich Sie ja an jemanden, dem es sich zuzuhören lohnt. Sie sollten mir nämlich gut zuhören, denn ich habe eine wichtige Nachricht für Sie. Schon einmal habe ich sie Ihnen überbracht, aber Sie wollten nicht hören. Nun haben sich düstere Dinge ereignet, und die Zeit drängt noch mehr als zuvor. Sie müssen diesen Ort verlassen, Lady Mary, besser heute als morgen.«
    »Weshalb?«
    »Ich kann Ihnen die Gründe dafür nicht nennen, denn Sie würden sie kaum

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