Die Bruderschaft der Runen
lachten nur. Einer von ihnen setzte vor und hob seinen Säbel, bereit, den Abt damit zu durchbohren. Aber noch ehe die rasiermesserscharfe Klinge ihn erreichte, drehte sich der Abt zur Seite und wich dem Angriff aus.
Der Säbel stieß ins Leere, und sein Besitzer gab einen unwilligen Laut von sich. Noch ehe er dazu kam, eine zweite Attacke zu führen, hatte Abt Andrew seine erste Überraschung überwunden. Schon war er zur Tür der Kammer geeilt, zog den Riegel beiseite und flüchtete hinaus auf den Gang.
Die Vermummten folgten ihm. Ihre Absicht war deutlich in ihren Augen zu lesen, die durch die Sehschlitze ihrer Masken starrten: Sie wollten Blut, und der Ordensvorsteher von Kelso sollte ihr erstes Opfer sein.
Abt Andrew rannte, so schnell seine Beine und die aus Bast geflochtenen Sandalen es zuließen. Er stürzte den halbdunklen, nur von wenigen Kerzen beleuchteten Gang hinab und kam sich dabei vor wie in einem finsteren Albtraum. Aber dies war die Realität, die Stiefeltritte der Verfolger und ihr mordlüsternes Keuchen waren Beweis genug dafür. Sie holten auf und kamen näher, und wieder blitzten die blanken Klingen, lechzten nach dem Blut des wehrlosen Ordensmannes – der plötzlich nicht mehr allein war.
Am Ende des Korridors, wo der Gang in das schmale Treppenhaus mündete, schälten sich mehrere Gestalten aus dem Halbdunkel, die wie der Abt das dunkle Gewand der Prämonstratenser trugen. Anders als er waren sie jedoch nicht wehrlos, sondern hielten lange Stäbe aus geschmeidigem Birkenholz in ihren Händen, mit denen sie den Angreifern entgegentraten. Ihre Kapuzen schlugen sie dabei zurück, sodass ihre kahlen Häupter sichtbar wurden.
Für einen Augenblick waren die Eindringlinge verblüfft. Mit Widerstand hatten sie nicht gerechnet, sie waren davon ausgegangen, dass dieser Mordauftrag leicht zu erledigen sein würde. Doch schon im nächsten Moment hatten sie ihre Überraschung verwunden und stürzten sich auf die Mönche, die sich schützend vor ihren Abt gestellt hatten. Sogleich entbrannte ein heftiges Handgemenge.
Wütend stürzten die Vermummten sich auf die Verteidiger, schwangen ihre Klingen mit vernichtender Wucht. Die Mönche im Gegenzug vermochten die Stäbe so zu führen, dass harmloses Holz in ihren Händen zur vernichtenden Waffe wurde. Vor vielen Jahrzehnten hatte ein weit gereister Bruder aus dem Fernen Osten das Geheimnis des waffenlosen Kampfes mitgebracht, das die Mönche vertieft und vervollkommnet hatten. Im Verborgenen hatten sie den Kampf mit dem Stab trainiert – nicht um anzugreifen, sondern um sich verteidigen zu können, wenn Leib und Leben in Gefahr waren. So wie in diesem Augenblick …
Im Halbdunkel zuckte ein blanker Säbel vor und schnitt durch Fleisch und Sehnen. Einer der Mönche schrie auf und brach zusammen; sofort setzten zwei seiner Mitbrüder nach, um den Täter mit wirbelnden Stöcken zu strafen. Mit vernichtender Wucht ging das Holz nieder, zerschmetterte Knochen und fegte die Angreifer von den Beinen. Die Bewegungen der Mönche waren so schnell, dass die Vermummten ihnen kaum folgen konnten. Zwar waren die Angreifer besser bewaffnet, der Gewandtheit der Mönche hatten sie jedoch kaum etwas entgegenzusetzen.
Zwei von ihnen sanken bewusstlos unter den Stockhieben zu Boden, ein Dritter bekam den Ellbogen zerschmettert, als ein Stab ihn traf. Ein Vierter sprang vor und schwang den Säbel, ehe auch ihn das Ende eines Stabes traf und von den Beinen fegte.
Die verbliebenen Angreifer verfielen in entsetztes Geschrei und wandten sich zur Flucht. Hals über Kopf stürzten sie zurück zu Abt Andrews Kammer und flüchteten durch das zerbrochene Fenster. Einige der Mönche wollten ihre Verfolgung aufnehmen, aber Abt Andrew hielt sie zurück.
»Haltet ein, meine Brüder«, rief er ihnen zu. »Unsere Sache ist es nicht, zu strafen und zu rächen. Der Herr allein wird das für uns tun.«
»Aber ehrwürdiger Abt«, wandte Bruder Patrick ein, der zur Gruppe der wackeren Verteidiger gehörte. »Diese Männer sind nur aus einem Grund gekommen – um Sie zu ermorden! Zuerst Sie und dann uns alle!«
»Trotzdem darf Rache nicht das Gefühl sein, das unser Handeln leitet«, widersprach der Abt mit bestaunenswerter Ruhe. Seinen ersten Schrecken schien er völlig überwunden zu haben. »Vergiss nicht, Bruder Patrick, dass wir unsere Feinde nicht hassen. Weder wollen wir sie bestrafen, noch wollen wir ihnen Schaden zufügen. Wir wollen nur bewahren, was rechtens
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