Die Bruderschaft der Runen
du also dieser Freund sein willst …«
Er sprach nicht weiter, sondern hielt Quentin seine Rechte hin, die dieser sofort ergriff. »Es ist mir eine Ehre, Onkel«, erwiderte er. »Und bitte, lass uns vorsichtig sein, bei allem, was wir tun.«
»Das verspreche ich dir«, entgegnete Sir Walter lächelnd, »wobei es interessant wäre zu erfahren, ob der Freund oder der Neffe das gesagt hat.«
Die Kutsche kam zum Stillstand. Sie hatten die Kreuzung erreicht, von der aus die Gasse zu dem Hinterhof führte, in dem Miltiades Gainswicks Haus stand.
Sie stiegen aus, und Sir Walter wies den Kutscher an, auf sie zu warten. Es war später Nachmittag, aber die Wolken waren so dicht, dass die Sonnenstrahlen sie schon nicht mehr durchdrangen.
Die Mappe mit der Abschrift des Fragments unter dem Arm, folgte Quentin seinem Onkel durch die Gasse. Sie erreichten den Hof, an dessen Ende das Haus des Professors stand. Aus dem Arbeitszimmer drang das gelbe Licht einer Petroleumlampe – offenbar war der Gelehrte einmal mehr dabei, alte Schriften zu wälzen und sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Sir Walter war sicher, dass Professor Gainswick das Fragment als willkommene Abwechslung betrachten würde, und vielleicht konnte er ihnen ja mehr über den Steinkreis sagen, der in der alten Schrift erwähnt wurde.
»Onkel«, sagte Quentin plötzlich, und auch Sir Walter bemerkte es in diesem Augenblick: Die Haustür stand einen Spalt weit offen. In einer ländlichen Umgebung wäre dies nicht weiter ungewöhnlich gewesen – in einer Stadt wie Edinburgh jedoch, in der sich immer viel Gesindel in den Gassen herumtrieb, war es höchst verdächtig.
Mit dem Knauf seines Stocks schlug Sir Walter gegen die Tür, um ihr Eintreffen anzukündigen, aber nichts geschah; weder näherte sich Professor Gainswicks Diener, noch war sonst ein Laut aus dem Innern des Hauses zu hören. Sir Walter sandte seinem Neffen einen jener Blicke, die Quentin in den letzten Tagen wohl zu deuten gelernt hatte – er verriet, dass sein Onkel sich Sorgen machte.
Sie stießen die Tür an, worauf sie knarrend nach innen schwang.
»Professor Gainswick?«, rief Sir Walter den schmalen Gang hinab. »Sir, sind Sie zu Hause?«
Sie erhielten keine Antwort, obwohl vom Ende des Ganges Licht zu ihnen drang. Jetzt wurde auch Quentin unruhig. Anspannung lag in der Luft, das Gefühl einer unheimlichen Bedrohung.
Mit einem Nicken bedeutete Sir Walter seinem Neffen einzutreten. Langsam gingen sie den Gang hinab. Die Dielen ächzten leise unter ihren Füßen. Sie passierten den Speiseraum und das Herrenzimmer, wo sie zuletzt beieinander gesessen hatten. Im Kamin brannte Feuer, was darauf schließen ließ, dass doch jemand im Haus sein musste.
»Professor Gainswick!«, rief Sir Walter deshalb noch einmal, »sind Sie hier? Sind Sie zu Hause, Sir?«
Den Professor fanden sie nicht, dafür seinen Diener. Quentin wäre fast über ihn gefallen, als sie das hintere Ende des Ganges erreichten, wo sich der Durchgang zum Arbeitszimmer befand. Die Tür war angelehnt, und nur ein dünner Balken Licht fiel durch den Spalt, der das unförmige Etwas zu Quentins Füßen beleuchtete.
»Onkel!«, entfuhr es ihm entsetzt, als er erkannte, dass es ein Leichnam war – Professor Gainswicks Diener. Sein Gesicht war verkrampft und aufgedunsen, die weit aufgerissenen Augen schienen Quentin in stummer Anklage anzustarren. Um seinen Hals war noch der Strick gewickelt, mit dem sein Mörder ihn erdrosselt hatte.
»Um Himmels willen«, ächzte Sir Walter und beugte sich zu ihm hinab. Rasch untersuchte er ihn, um dann resignierend den Kopf zu schütteln.
»Und der Professor?«, fragte Quentin betroffen.
Sir Walter blickte zur Tür. Sie ahnten beide, dass die Antwort auf Quentins Frage auf der anderen Seite lag, und sie irrten sich nicht.
Miltiades Gainswick saß im großen Sessel vor dem Kamin des Arbeitszimmers, ein Buch auf den Knien. Aber die Gesichtszüge des Gelehrten zeugten nicht von wissenschaftlicher Neugier, sondern waren eingefallen. Sein Atem klang wie das Rasseln von Ketten, und zu seinem Entsetzen sah Quentin überall Blut. Der Anzug und das Hemd des Gelehrten waren damit besudelt, ebenso der Sessel und der Fußboden, wo sich der Lebenssaft in schreiend roten Lachen sammelte.
»Professor!«
Sir Walter gab einen entsetzten Schrei von sich, und sie stürzten beide auf Gainswick zu, der ihnen matt und gebrochen entgegenblickte. Sein Kopf war zur Seite gefallen, und er hatte nicht
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