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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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William Kerr, »war außer dem jungen Jonathan wohl noch jemand in dem Archiv …«
    Es war unheimlich in der Bibliothek. Zwischen den hohen, mit alten Folianten voll gestopften Regalen schien die Zeit stillzustehen, und der Staub vergangener Jahrhunderte erfüllte die Luft. Obwohl zahlreiche brennende Kerzen auf den Lesetischen aufgestellt worden waren, wurde ihr Licht schon nach wenigen Schritten von der drückenden Düsternis verschluckt.
    Quentin Hay war kein mutiger Mann. Walter Scotts Neffe entbehrte die zupackende, entschlossene Art seines Onkels, und er war gewiss nicht das, was man einen Draufgänger nannte. Während seine Brüder alle schon frühzeitig gewusst hatten, was sie werden wollten – Walter, der jüngere, der nach seinem berühmten Onkel benannt worden war, war nach Edinburgh gegangen, um Recht zu studieren, Liam, der ältere, war den Dragonern beigetreten –, hatte Quentin sein zwanzigstes Lebensjahr erreicht, ohne auch nur eine blasse Ahnung zu haben, was er aus sich und seinem Leben machen wollte, sehr zum Leidwesen seiner Mutter.
    Dass er ihrem Bruder nacheifern und ebenfalls Schriftsteller werden sollte, war ihre Idee gewesen. Nicht, dass Quentin es sich nicht hätte vorstellen können, seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Büchern zu verdienen. Das Problem war, das er sich auch vorstellen konnte, mit jedem anderen Beruf sein Auskommen zu bestreiten. Gewiss, das Schreiben machte ihm Freude – aber ob seine Anlage dazu so ausgeprägt war wie die seines Onkels, bezweifelte er doch sehr.
    Immerhin hatte er auf diese Weise die Gelegenheit erhalten, von zu Hause fortzukommen. In Abbotsford gefiel es ihm gut. Nicht nur, weil Sir Walter ihm ein geduldiger, weiser Lehrer und in mancher Hinsicht mehr eine Vaterfigur war als der leibliche Vater, ein wortkarger, hart arbeitender Mann, der sich als Buchhalter in einem Handelskontor in Edinburgh verdingte. Sondern auch, weil Sir Walter ihn nicht unter Druck setzte, wie seine Eltern das zu tun pflegten, und weil Quentin zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl hatte, selbst entscheiden zu dürfen, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Meistens jedenfalls.
    Bis spät in die Nacht in einer kalten, zugigen Bibliothek zu sitzen und nach Hinweisen auf einen Mord zu suchen, gehörte allerdings nicht zu den Dingen, die er sich freiwillig ausgewählt hätte. Aber Sir Walter hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er Quentins Hilfe dringend benötigte, und der junge Mann hatte ihn nicht im Stich lassen wollen.
    Er selbst hatte deutlich gespürt, wie sehr sein Onkel unter dem Tod von Jonathan Milton litt. Auch er war betrübt über das jähe und schreckliche Ende, das der junge Student gefunden hatte, mit dem zusammen er oft in Jedburgh gewesen war, um einzukaufen oder das örtliche Gasthaus aufzusuchen.
    Den Tag über war Quentin Abt Andrew und seinen Mitbrüdern dabei zur Hand gegangen, die Bestände der Bibliothek zu überprüfen – ein schier aussichtsloses Unterfangen bei all den papiernen Schätzen, die in den hohen Regalen lagerten. Die Mönche hatten sich dabei auf jene Bereiche konzentriert, in denen Jonathan Milton gearbeitet hatte, und natürlich hatten sie auch die Regale im oberen Stockwerk überprüft, wo der Student sich zuletzt aufgehalten haben musste.
    In ihrer kontemplativen Art waren die Prämonstratenser dabei schweigend zu Werke gegangen. Zuerst war Quentin die Stille drückend und schwer erschienen, im Lauf des Tages hatte er sich aber daran gewöhnt. Ja, mit der Zeit hatte er die Stille sogar als etwas Befreiendes empfunden, hatte es genossen, endlich einmal mit seinen Gedanken allein zu sein; mit seiner Furcht und der Trauer – und der Wut auf jene, die für Jonathans Tod verantwortlich waren.
    Bis zum Abend wurden keinerlei Hinweise darauf gefunden, dass ein Dieb in der Bibliothek sein Unwesen getrieben haben könnte. Alle Bände schienen an ihrem Platz zu stehen, säuberlich eingereiht und von jahrzehntealtem Staub bedeckt. Bei Sonnenuntergang zogen sich die Mönche zurück, um im Gebet des Herrn zu gedenken und den Tag in Klausur zu beschließen.
    Quentin jedoch war in der Bibliothek geblieben.
    Ein Gefühl, das ihm bislang fremd gewesen war, hatte von ihm Besitz ergriffen und nötigte ihn dazu, die Suche fortzusetzen: Ehrgeiz. Der unwiderstehliche Drang herauszufinden, was geschehen war, erfüllte Quentin, und dabei sah er sich noch nicht einmal in der Lage, genau zu benennen, woher dieser Ehrgeiz rührte.

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