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Die Bruderschaft der Runen

Titel: Die Bruderschaft der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Mann ließ sich auf den Bauch fallen und robbte verzweifelt über den Boden. Staub wirbelte auf und brannte in seinen Augen, brachte ihn zum Husten. Seine Panik zwang ihn dazu, die bizarre Verfolgung fortzusetzen – bis er schließlich erleichtert feststellte, dass die Kerze unter dem Regal liegen geblieben war.
    Er streckte sich und versuchte, sie zu erreichen, doch seine Arme waren zu kurz. In einem Anflug von Genialität nahm er die Feder, die er mit der anderen Hand umklammert hielt, und holte mit ihrer Hilfe die Kerze heran.
    Unschuldig rollte der Stummel aus Wachs, der ihm solchen Schrecken eingejagt hatte, über den Boden und beleuchtete die Dielen.
    In diesem Augenblick sah Quentin es.
    Im Lichtschein der vorüberhuschenden Flamme war es nur für einen winzigen Moment zu sehen, aber es erregte Quentins Aufmerksamkeit. Rasch wälzte er die Kerze noch einmal zurück. Er hatte sich nicht geirrt.
    In der Bodendiele unter dem Regal prangte ein Zeichen, ein Emblem, das jemand in das weiche Holz geschnitzt hatte.
    Neugierig beugte Quentin sich vor und zwängte seinen Kopf so weit zwischen Boden und Regal, wie er es wagen konnte, ohne stecken zu bleiben.
    Das Zeichen war in etwa so groß wie seine Handfläche und sah aus wie ein Siegel – mit dem Unterschied, dass keine Buchstaben darin zu erkennen waren. Es bestand nur aus zwei Elementen – einem gebogenen, das wie die Sichel des Neumonds aussah, und einem geraden, das die Sichel durchstieß.
    Obwohl Quentin das Zeichen noch nie zuvor gesehen hatte, ging eine eigenartige Vertrautheit davon aus. Allerdings war da auch ein Gefühl, das den jungen Mann ängstigte.
    Was es wohl zu bedeuten hatte? Weshalb hatte man es ausgerechnet an dieser Stelle in das Holz geritzt?
    »Vielleicht, um etwas zu markieren«, gab sich Sir Walters Neffe selbst die Antwort. Entschlossen griff er nach der Kerze, packte sie und zog sie unter dem Regal hervor. Da der Leuchter zerbrochen war, musste er sie mit bloßen Händen halten, sodass ihm das Wachs auf die Finger tropfte.
    Er achtete nicht darauf. Sein Puls schlug schneller, sein Ehrgeiz war noch größer geworden, jetzt, wo er das Gefühl hatte, etwas wirklich Wichtiges entdeckt zu haben. Möglicherweise hatte ihm sein Ungeschick dieses eine Mal einen guten Dienst erwiesen. Vielleicht war er der Erste, der das Symbol entdeckt hatte …
    Langsam richtete er sich auf und studierte im Kerzenlicht das Regal, unter dem er das Zeichen gefunden hatte. Der Schein der Kerze reichte nicht weit; Reihe für Reihe musste er absuchen, arbeitete sich immer weiter empor – um plötzlich innezuhalten.
    Ein Band fehlte.
    Inmitten einer Reihe von Folianten, die keine Kennzeichnung trugen, klaffte eine Lücke, die etwa eine Handspanne breit war.
    »Das ist es«, flüsterte Quentin und merkte, wie er von seinem eigenen verschwörerischen Tonfall eine Gänsehaut bekam. »Ich habe es gefunden.«
    Sein Onkel hatte also Recht gehabt. Es hatte tatsächlich ein Dieb in der Bibliothek sein Unwesen getrieben, und er, Quentin, hatte den Beweis dafür gefunden. Seine Brust schien vor Stolz zu schwellen, und am liebsten hätte er die Euphorie, die ihn erfüllte, laut hinausgebrüllt.
    Dann plötzlich hörte er ein hässliches Geräusch.
    Leise, pochende Schritte, die die Treppe zur Galerie heraufkamen. Die Dielen ächzten unter dem Gewicht.
    Für einen Moment stand Quentin wie gelähmt vor Entsetzen, und seine alte Furchtsamkeit gewann wieder die Oberhand. Dann jedoch rief er sich selbst zur Vernunft. Er musste damit aufhören, an den Kinderschreck zu glauben, anders würde es ihm nie gelingen, die Anerkennung seines Onkels und seiner Familie zu erlangen.
    »Wer ist da?«, fragte er deshalb laut und achtete darauf, dass seine Stimme fest und sicher klang.
    Er bekam keine Antwort.
    »Onkel, bist du das? Oder sind Sie es, Abt Andrew?«
    Wieder herrschte bitteres Schweigen, auch die Schritte waren verstummt.
    Quentin befeuchtete seine Lippen. Er hatte die besten Vorsätze, nicht mehr an Gespenster zu glauben. Aber weshalb antwortete der nächtliche Besucher nicht, wenn er ihn ansprach? Die Erinnerung an das, was dem armen Jonathan widerfahren war, stieg in ihm auf. Furcht legte sich wie ein eiserner Ring um seine Brust und drückte ihm die Luft ab.
    »Wer ist da?«, fragte er noch einmal, und mit der Kerze in der Hand schritt er die Gasse zwischen den Regalen hinab. Erschrocken registrierte er, dass diese Kerze nun die einzige Lichtquelle in der Bibliothek war.

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