Die Bruderschaft der Runen
erhaschte er einen Blick auf die Treppe. Er musste sie erreichen, sonst würden die Flammen sein Ende sein.
Hustend und würgend kämpfte er sich durch den dichten Rauch, presste sich das Tuch vors Gesicht, das er um den Hals gebunden trug.
»Feuer!«, ächzte er dabei immer wieder, doch das Brausen der Flammen, die einen wahren Feuersturm in der Bibliothek entfacht hatten, übertönte ihn.
Endlich erreichte er das Geländer und bekam es zu fassen. Die Dielen bebten unter seinen Füßen. An der Balustrade entlang hangelte er sich zur Treppe, während er spürte, wie ihm die Sinne schwanden. Nach Atem ringend, arbeitete er sich weiter voran, erreichte die erste Stufe – und verlor den Halt.
Quentin merkte noch, wie er in die bodenlose Tiefe stürzte. Dann schienen die Flammen schlagartig zu verlöschen, und es wurde schwarz um ihn.
Er sah sie aus der Ferne. Die Reiterin saß auf einem schneeweißen Pferd, das mit wehender Mähne und fliegendem Schweif die Landschaft durcheilte. Je näher sie kam, desto deutlicher konnte er ihre Züge erkennen.
Sie war jung, nicht älter als er selbst, und von vornehmer Gestalt. Aufrecht saß sie auf dem Rücken des Tieres, dem weder Sattel noch Zügel angelegt waren, und hatte die Hände fest in seine Mähne verkrallt. Ihr Haar wehte im Wind, umrahmte das ebenmäßige Gesicht mit dem kleinen Mund und den Augen, die wie Sterne leuchteten. Ihr einziges Kleidungsstück schien ein schlichtes Hemd aus Leinen zu sein, das ihre Figur wie Wasser umfloss.
Sie war das schönste Geschöpf, das ihm je unter die Augen gekommen war. Und obwohl er sie deutlich sehen konnte, obwohl er den Wind fühlte und die feuchte, würzige Luft roch, die vom Boden aufstieg, wusste er, dass sie nicht wirklich war, sondern nur ein Traum.
Die Reiterin kam auf ihn zu.
Die Hufe ihres Pferdes schienen den Boden kaum zu berühren, mit atemberaubender Geschwindigkeit sprengte das Tier heran. Obwohl er ahnte, dass sie nur ein Trugbild war, streckte er die Hände nach ihr aus, versuchte sie zu greifen …
»Quentin?«
Die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, als stünde ihr Besitzer auf der anderen Seite eines weiten Tals und als trüge der Wind seine Worte heran.
Quentin wollte sie nicht hören. Er schüttelte den Kopf und presste die Hände auf die Ohren, denn er hatte nur Augen für die Reiterin, die sich jetzt wieder von ihm zu entfernen schien.
»Nein!«, rief er enttäuscht. »Geh nicht! Bitte, geh nicht …«
»Ruhig, mein Sohn. Es ist alles in Ordnung.«
Wieder die Stimme. Diesmal war sie beträchtlich näher, und je deutlicher sie wurde, desto mehr entschwand das Bild der jungen Frau.
»Bitte geh nicht«, murmelte Quentin noch einmal. Dann spürte er, wie ihn jemand an der Schulter berührte, und er schlug die Augen auf.
Zu seiner Überraschung blickte er in das Gesicht eines Mannes. Weißgraues, nach vorn gekämmtes Haar umrahmte Züge, die Entschlossenheit und Kraft, aber auch Sorge verrieten. Es dauerte eine Sekunde, bis Quentin klar wurde, dass er nicht mehr im Reich der Träume weilte. Und dass jenes Gesicht, das ihn so besorgt musterte, Walter Scott gehörte.
»Onkel Walter«, hauchte er. Das Sprechen fiel ihm schwer, jedes Wort brannte wie Feuer in seiner Kehle.
»Guten Morgen, Quentin. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.« Ein jungenhaftes Lächeln huschte über Sir Walters Züge, die ein wenig von den schier unerschöpflichen Energien erahnen ließen, die diesen Mann erfüllten. Quentin hingegen fühlte sich elend und ausgelaugt. Und als die Erinnerung zu ihm zurückkehrte, wusste er auch, weshalb.
»Wo bin ich?«, fragte er heiser.
»In Abbotsford.«
»In Abbotsford?« Quentin blickte sich erstaunt um. Tatsächlich: Er befand sich in seinem Schlafraum auf dem Landsitz seines Onkels. Er lag im Bett, auf dessen Kante Sir Walter hockte. Mattes Morgenlicht fiel durch das Fenster und verhieß einen neuen Tag.
»Wie bin ich hierher gekommen?«
»Du hattest großes Glück. Abt Andrew und seine Mönche haben das Feuer bemerkt und sind ohne Zögern in das Flammenmeer vorgedrungen, um dich zu retten.«
»Dann konnte der Brand gelöscht werden?«
»Nein, das nicht.« Sir Walter klang enttäuscht. »Das Kornhaus von Kelso ist bis auf die Grundmauern abgebrannt – und mit ihm alle Bücher, die dort lagerten. Das Wissen der Vergangenheit liegt in Schutt und Asche. Aber du, lieber Junge, bist am Leben. Nur das zählt.«
»In Schutt und Asche«, echote Quentin freudlos. Sein
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